Das Plakat

von Jacob Misdroy

Der Winter war früh gekommen in diesem Jahr. Julia fröstelte. Einsam stand sie an der Trambahnhaltestelle und wartete. Nein, Straßenbahnhaltestelle hieß das hier, korrigierte sie sich. Keine zwei Jahre war es her, dass sie aus der Isar- in die Elbmetropole umgezogen war. Dass sich Frank verspätete, besserte ihre Stimmung nicht. Jetzt fuhr schon die zweite Bahn, die sie hätte nehmen können, ohne sie davon. Es war mal wieder typisch. Hatte er ihre Verabredung vergessen? Julia beneidete ihre Freundinnen. Die hatten Männer, die pünktlich waren.

            Sie hatte ihn überredet mit ihr in die Sauna zu gehen, zur Entspannung und um dem Novemberwetter zu entfliehen. Seit Tagen taten ihr die Nasennebenhöhlen weh. Ein untrügliches Zeichen für zu viel Stress. Das Medizinstudium forderte seinen Tribut. Sie stand kurz vor dem Examen und ihre Zeit war knapp bemessen. Sie gab ihm zehn Minuten.

            Mit der Ledertasche unterm Arm und viel zu dünner Regenjacke kam er schließlich angerannt. Ihre Umarmung fiel flüchtiger aus als sonst.

            Die Straßenbahn war voll, sie mussten stehen. Über Lautsprecher kam die Ansage, dass sie umgeleitet werden. Wegen des Brückenschadens. Auch das noch. Aber eigentlich entlockte es ihr ein Schmunzeln: Bauwerke, die nachts in Flüsse fallen – allein die Vorstellung fand sie komisch. Die Umleitung führte an den Prachtbauten der Innenstadt entlang, die wie an einer Perlenkette aufgefädelt an der Strecke standen. Dies entschädigte ohnehin für vieles.

            „Wir könnten mal wieder ins Theater gehen,“ sagte sie zu Frank, als ihr Blick das Schauspielhaus einfing. Es klang beiläufig, wie lautes Denken, weniger nach einem Vorschlag. Frank reagierte nicht darauf. Seit er diesen Dozentenjob an der Uni angetreten hatte, kam es immer öfter vor, dass er nicht ganz bei der Sache war. Frank war Philosoph. Sie wisse nicht, was es bedeute, anspruchsvolle Seminare zu derart komplizierten Themen abzuhalten, hatte er kürzlich erst zu ihr gesagt. Ihrer Meinung nach war er ein Sexist, wenn auch ein fortschrittlicher, aber meistens störte sie sich nicht daran. Ohnehin arbeiteten Mediziner mehr als Philosophen, war sie überzeugt.

            Am Schwimmbadeingang stellte sich heraus, dass sie mit ihrer Idee nicht die Einzigen gewesen waren. Zum Glück gab es für Saunagäste eine separate Warteschlange. Als sie an der Reihe waren, wollte Julia wie gewohnt mit ihrer Karte zahlen. Frank kam ihr zuvor und legte sein pingelig abgezähltes Kleingeld auf den Tresen. Kreditkarten halte er für eine Ausgeburt das Kapitalismus, hatte er ihr mal erzählt.

            Auch innen war es voller als sie erwartet hatte. Für einen Moment fand sie es nervig, aber was sollte sie machen, sie liebte diese Sauna. Das Ambiente war hell, an den Wänden hingen opulente Bilder mit Motiven aus den großen Galerien, von denen es hier reichlich gab. Für Kunst hatte man in dieser Stadt noch etwas übrig. Es war beinahe wie in München, dachte Julia, und fühlte sich ein bisschen wie zu Hause. Ob Frank die Bilder wahrnahm? Sie hatte das Gefühl, dass er die meisten Dinge einfach hinnahm, wie sie waren.

            Finnische Sauna hatte über der Eingangstür gestanden. Das Thermometer zeigte 95 Grad. Julia war froh, als sie endlich auf der obersten Bank Platz genommen hatten. Mit einer lauwarmen Bio-Sauna musste man ihr nicht kommen.

            „Rück mal ein Stück rüber“, murmelte Frank.

            „Es geht nicht“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Die Kabine hatte sich gefüllt, dicht an dicht saß man beieinander, was die meisten nicht zu stören schien. Julia dachte, sie wäre jetzt lieber beim Frauensaunatag, da wäre ihr wohler. Aber das ging nun einmal nicht mit Frank.

            „Kannst du mir helfen ein Plakat zu malen?“, fragte er sie völlig unvermittelt, und zwar so, dass es alle hören konnten.

            Julia war irritiert und gleichzeitig machte es sie stutzig. Für gewöhnlich bat Frank sie nie um etwas. Was wollte er?

            „Du hattest doch Kunst-Leistungskurs beim Abitur“, schob er nach, als sie nicht gleich reagierte.

            Klar, sie konnte ganz gut Zeichnen. Aber seine Bitte klang nach Aufforderung. Das mochte sie nicht. Sie war deshalb nicht sicher, wie sie reagieren sollte. Gleichzeitig war etwas in ihr, das sich sehr geschmeichelt fühlte.

            „Es kommt drauf an“, sagte sie und nahm sich vor darüber nachzudenken. „Was für ein Plakat soll es denn sein?“

            „Ich brauche irgend so ein Antikriegsplakat“, antwortete Frank und wischte sich umständlich seinen Schweiß vom Gesicht und seinem viel zu schmalen Oberkörper.

            „Was meinst du damit?“ Sie hatte keine Ahnung, warum er nun ausgerechnet ein Antikriegsplakat haben wollte.

            „Eben ein Antikriegsplakat. So wie in den Zwanzigerjahren, also vor hundert Jahren, nicht wie heute. Eher wie Käthe Kollwitz oder so.“

            Käthe Kollwitz war ihr kein Begriff. Er kannte einfach andere Künstler als sie.

            „Wofür brauchst du denn das Plakat“, wollte sie von ihm wissen.

            „Für die Uni. Es müsste spätestens Ende nächster Woche fertig sein.“

            „Für dein Seminar?“, fragte Julia und bezweifelte nun doch, dass sie dafür überhaupt die nötige Zeit aufbringen konnte.

            „Nee, wir machen ein Sit-in. Das Plakat soll dazu einladen. Je mehr kommen, umso besser. War so ´ne Idee von mir und ein paar Kollegen von der Uni.“

            Julia fand die Idee merkwürdig und entgegnete erst einmal nichts. Irgendetwas war daran, was ihr nicht gefiel.

            „Mutig, mutig, junger Freund“, sagte ein Mann, der direkt vor ihnen saß. Er mochte Anfang Sechzig sein und redete mit lauter, sonorer Stimme. „Aber passen Sie bloß auf, dass Ihnen ihr Job nicht abhandenkommt.“

            Der Mann wirkte für sein Alter auffallend kräftig und gesund, nicht unsympathisch. Trotzdem fand Julia es unangenehm, dass er sich in ihr Gespräch einmischte, auch wenn sie das, was er gesagt hatte, für vernünftig hielt. Frank war neu auf dieser Stelle. Natürlich war auch sie der Meinung, dass er besser nichts riskieren sollte

            Eine offiziell aussehende Frau in bunter Kittelschürze erschien in der Tür und begann ohne Vorankündigung mit dem Aufgussritual: erst Lüften, dann Tür schließen, Eimer schwenken, Aufguss auf die Steine – fertig. Julia überraschte es immer wieder, wie unspektakulär man manche Dinge in dieser Stadt ablaufen ließ.

            „Wie das mit dem Krieg jetzt läuft, das ist schon der Wahnsinn“, redete der Mann unaufgefordert weiter, kaum dass die Aufgussfrau den Raum verlassen hatte. „Zu meiner Zeit gab´s zum Beispiel solche Aufnäher mit der Aufschrift Schwerter zu Pflugscharen. Wer den auf der Jacke hatte, bekam Ärger.“

            „Das können Sie doch nicht vergleichen“, entgegnete ihm Frank. Er schien empört. „Wir haben hier Demokratie, und das schon seit mehr als drei Jahrzehnten, oder?“

            Julia wunderte sich, dass Frank offenbar der Meinung war, sich gegenüber diesem Menschen verteidigen zu müssen. So kannte sie ihn gar nicht. „Sollten wir das mit dem Plakat nicht erst einmal in Ruhe besprechen?“, versuchte sie ihn leise zu besänftigen. Ihr ging das alles viel zu schnell. Mit politischem Engagement hatte sie persönlich keinerlei Erfahrung. Außerdem wollte sie ihn spüren lassen, dass sie es nicht mochte, wenn er über ihren Kopf hinweg irgendwelche Sachen mit seinen Freunden oder Kollegen entschied, die sie am Ende machen sollte.

            Aber Frank reagierte verschnupft. „Ich will mit ein paar Freunden ein Sit-in machen, gegen den Krieg, da mach ich mir keine Sorgen. Jeder kann sich hier versammeln, oder nicht? Und ein cooles Plakat hilft, dass viele kommen.“

            Julia konnte nicht gut einordnen, worauf das hier hinauslief. Was, wenn das eskalierte? In der Ecke bei der Tür saß einer mit lauter Tätowierungen am ganzen Körper, die aussahen wie Nazi-Symbole. Sie machte sich Sorgen um Frank.

            „Ich bin Medizinstudentin und bestimmt keine zweite Käthe Dingsbums, verstehst du das?“, flüsterte sie ihm zu. Behutsam wollte sie Frank an den Gedanken gewöhnen, dass sie seinem Wunsch nicht nachkommen würde. Ihr wurde die Sache langsam zu heiß, nicht nur weil sie in der Sauna saß.

            „Endlich mal einer, der was unternimmt“, bemerkte eine junge Frau mit hochgesteckten Haaren, die auf der mittleren Bank rechts neben dem Ausgang hockte und ihre Beine angezogen hatte. 

            „Nicht wieder wie bei Corona, wo keiner demonstriert hat“, fügte der Mann mit den Tattoos hinzu. Julia wunderte sich, dass der Typ überhaupt in ganzen Sätzen sprechen konnte.

            „Es ist furchtbar, ich hab drei Kinder und hab einfach Angst, dass das hier wieder los geht“, kam von einer Frau mit tiefer Stimme und osteuropäischem Akzent, deren Umrisse man im Dämmerlicht der Kabine kaum wahrnehmen konnte. Tiefes Schweigen folgte.

            „Angst ist Propaganda“, warf ein schmal gebauter Mann ein, der aussah, als ob er draußen, im wirklichen Leben, irgendein wichtiges Amt ausübte. „Wer deshalb demonstriert, schadet uns.“

            „Hören Sie doch mit dem Blödsinn auf“, konterte der Nazityp.

            „Lassen Sie ihm bitte seine Meinung“, schaltete sich der ältere Mann erneut ein. Eine unverkennbare Schärfe lag jetzt in seiner Stimme. „Niemand von uns weiß heute, was in der Sache wirklich richtig ist.“

            Damit hatte er recht, fand Julia. Aber warum verteidigte er jemanden, der eine andere Meinung vertrat als er? Julia fand die Situation in der Kabine zunehmend irritierend. Nur weil Frank seine blöde Idee mit dem Plakat und dem Sit-in ausgerechnet hier ausbreiten musste, stritt eine Gruppe wildfremder Menschen miteinander über Politik. In der Sauna! Noch dazu mit einem, der aussah wie ein Neonazi. Zu Hause in München wäre das undenkbar.

            „Frieden wollen doch alle“, stellte die junge Frau mit den hochgesteckten Haaren fest. „Und Friedensdemos gab es doch schon immer. Ich würd´ auch auf eine gehen. Da hat man wenigstens das Gefühl, dass man etwas unternimmt und nicht nur zuschaut.“

            „Haben Sie denn keine Angst, dass ihnen das jemand krummnehmen könnte?“, fragte Julia.  „In der Arbeit oder im Freundeskreis?“

            Die junge Frau schaute Julia vollkommen verständnislos an.

            „Auch nicht vor einem Shitstorm im Netz?“ Julia musste an das Plakat denken, das Frank letztlich von ihr haben wollte. Wenn sie ehrlich war, war das ihre größte Sorge. Oder wenn ihre Freundinnen aus der Münchner Maxvorstadt davon erfuhren. Nicht auszudenken. Eigentlich wusste sie gar nicht so genau, wie sie zu dem Krieg standen oder was sie von so einem Plakat halten würden. In ihren Kreisen war man sich einig: Über Politik wurde nicht gestritten. Man lebte gesundheitsbewusst in seinem schicken Einzimmerappartement, aß vegan und war tolerant. Gelegentlich engagierte man sich bei Unicef oder Ärzte ohne Grenzen. Ansonsten blieb man seiner Community treu und hielt sich an die Regeln. Man scherte einfach nicht aus oder tanzte aus der Reihe mit irgendeinem politischen Plakat zu einem Thema, das am Ende vielleicht umstritten war.

            „Shitstorm hat mich noch nie interessiert“, antwortete die junge Frau schmal. „Wenn ich auf die Straße gehe, dann, weil ich das für richtig halte. Wer damit nicht klar kommt, hat selber ein Problem.“

            Julia bewunderte die Entschlossenheit dieser jungen Frau. Sie war anders, als ihre Freundinnen zu Hause und Julia fragte sich, woran das liegen könnte. Hatten die Leute hier weniger Angst? Vielleicht weil sie die Erfahrung einer Revolution von unten teilten? Oder mehr, weil sie die Russen besser kannten?

            „Wir gehen.“ Frank stand auf und zog an ihrem Saunatuch. Sie liefen raus in Freie. Die kalte Abendluft tat ihr gut. Gemeinsam stiegen sie die geriffelten Metallstufen hinab, die zum Kältebad führten. Sie zitterte und kam sich auf einmal fremd vor: in dieser Stadt, vor diesen Leuten und vor Frank.

            „Wirst du es machen“, fragte er gereizt, als sie gemeinsam in Decken gehüllt im Ruheraum lagen.

            „Was machen?“ Julia spürte den Luftzug des Ventilators, der an der Decke über ihnen seine Kreise zog. Sie wollte sich entspannen. Dafür waren sie schließlich hergekommen.

            „Das Plakat“, erinnerte er sie. „Für unser Sit-in.“

            So wurde es nichts mit der Entspannung. „Hör auf damit und lass mich in Ruhe!“ Sie verlor allmählich die Geduld. „Es ist dein Sit-in, dein Projekt und deine Sache“, stellte sie ihm gegenüber unmissverständlich klar. „Mit uns beiden hat das nichts zu tun.“ Julia fühlte sich um ihren gemeinsamen Nachmittag betrogen.

            Trotz allem aber fand sie das, was sie gerade erlebt hatte, interessant und ungewöhnlich. Und es hatte sie auf eine besondere Art und Weise angerührt. „Ich denke über diese Leute nach“, sagte sie zu Frank. Vielleicht konnten sie das Thema wechseln.

            „Welche Leute?“, fragte Frank zurück.

            „Die mit uns in der Sauna saßen. Kannst du mir erklären, was da eben passiert ist?“

            „Was soll da passiert sein? Da war doch nichts Besonderes“, stellte er fest und drehte sich zur Seite, als ob sie sich gestritten hätten.

            „Du bist mir eine Antwort schuldig, Frank.“ Julia blieb hartnäckig.

            Frank setzte sich auf und sein etwas merkwürdig geformter Oberkörper kam in seiner ganzen Pracht zum Vorschein. Irgendetwas schien ihm nicht zu passen. „Schau den Menschen in die Augen“, begann er. „Ich sag dir das nicht gerne, aber wir sind hier anders als ihr, wir sind noch nicht so lange reich, wir können noch nicht so lange sagen, was wir wollen oder uns treffen und versammeln, mit wem wir wollen. Wir mussten auch erst lernen, mit all dem umzugehen. Wir wollen das jetzt leben und nicht einfach wieder hergeben. Und was den Krieg angeht, was das alles heißen kann, das sitzt uns Ostdeutschen anders in den Knochen.“ Umständlich schlüpfte er in seine blauen Badelatschen und wandte sich zum Gehen. „Es geht um Versammlungsfreiheit“, zischte er ihr zu. „Und du hast Skrupel wegen eines verdammten Sit-ins! Versammlungsfreiheit steht fett in eurem Grundgesetz, das wir von euch übernommen haben. Du bist doch diejenige von uns, die im Westen aufgewachsen ist. Nie was davon gehört? Und ich hab immer geglaubt, dass die euch das schon an der Wiege gesungen haben.“ Zum Schluss raffte er sein Saunatuch und entschwand in Richtung der Umkleideräume.

            Das saß! So hatte sie ihn noch nie erlebt. Hatte er recht mit dem, was er sagte? Lag vielleicht mehr Trennendes zwischen ihnen als sie wahrhaben wollte? Was liebte er überhaupt an ihr? Sie fühlte sich allein gelassen. Er hatte sicher nicht unrecht, München war eine heile Welt. Es hatte sie nie gestört, sie liebte geordnete Verhältnisse. Und außerdem konnte sie schließlich nichts dafür, dass sie dort aufgewachsen war. Als sie aufstand merkte sie, dass sie Tränen in den Augen hatte. Unauffällig wischte sie sie weg.

            Auf dem Rückweg in der Trambahn saßen sie schweigend nebeneinander. Sie guckte aus dem Fenster. Regen troff die Scheiben hinunter. Bahnhof Neustadt. Hier hielt die Bahn gewöhnlich länger als üblich. Julia beobachte, wie zwei Glatzen zur vorderen Tür einstigen und sich zwischen eine Frau in bunten Ethno-Klamotten mit Kinderwagen und eine Gruppe von Afrikanern stellten. Die standen dann einfach so da. Warum machte niemand etwas?

            „Ich mach die Sache mit dem Sit-in, mit oder ohne dein Plakat“, kam Frank ohne Vorankündigung zurück auf das, was ihn offenbar ohnehin die ganze Zeit beschäftigte.

            Julia überlegte. Sie wollte nicht. Trotzdem beeindruckte sie, dass Frank auch ohne sie bei seiner Sache blieb. Sie suchte nach einer Möglichkeit, es ihm zu sagen. „Ihr seid voller Widersprüche“, begann sie. „Und du hast sicher Recht, dass ich euch manchmal nicht verstehe. Zum Beispiel akzeptiert ihr ohne mit der Wimper zu zucken irgendwelche Nazitypen unter euch, ihr redet sogar mit denen, als seien sie ganz normale Menschen und gleichzeitig führt ihr euch als Kriegsverächter auf.“ Weiter kam sie nicht, denn sie merkte, dass das, was sie gesagt hatte, in Franks Ohren alles andere als versöhnlich klingen musste.

            „Du tickst ja nicht ganz sauber!“ Franks Augen traten auf eine schlimme Art aus ihren Höhlen hervor. „Niemand hier akzeptiert Nazis ohne mit der Wimper zu zucken. Und nicht jeder, der so aussieht, ist auch einer. Wir sind es vielleicht nur mehr oder anders gewöhnt auch mit denen zu reden, die anders denken. Julia, glaub mir, Demokratie ist nicht irgendeine Einstellung, eine wie auch immer geartete korrekte Meinung. Demokratie ist die Struktur, in der man sich artikuliert und sich miteinander streitet.“

            Sauber, dachte Julia. Frank, der Philosophiedozent, hatte gesprochen. Sie fragte sich, auf wessen Seite er sich befand. Half er durch das, was er tat und sagte, nicht den Feinden der Demokratie? Was half das ganze Diskutieren? Kam es nicht viel mehr auf die richtige, die bessere Meinung an? Sie merkte, dass sie sich nicht mehr ganz sicher war, wo Frank in Wahrheit stand. Freiheit schafft Unsicherheiten, das hatte Frank ihr immer wieder gesagt.

Wie recht er hatte, merkte sie in diesem Augenblick.

Julia drückte den Knopf für die nächste Haltestelle und stieg aus.