Im Echo ihrer Stimmen

von Carina Zhumanova

Flaggen peitschen über meinem Kopf hinweg durch die Luft. Schreie erklingen, und ich stimme ein. Schreie, die nach Gemeinschaft klingen. Unsere Füße stampfen im Takt auf den Boden. Ich forme einen Trichter mit meinen Händen und hole kräftig Luft, um all meinen Frust herauszuschreien: „Wir werden niemals frei sein, bevor nicht alle frei sind.“

Polizisten umringen uns, jederzeit bereit, jemanden herauszuziehen.

Eine Frage der Sicherheit, sagen sie.

Ein Akt der Unterdrückung, rufen wir zurück.

Um mich herum werden Plakate in die Luft gehalten, mein eigenes liegt zu Hause, vergessen auf dem Boden. Doch es dauert nur wenige Minuten, bis mich eine Gruppe bemerkt und mir eines in die Hand drückt. Einsamkeit ist ein fremdes Wort, wenn die Stimmen um dich herum wie deine eigenen klingen. Es ist ein Gefühl, das ich von zu Hause kenne, vom gedeckten Tisch, an dem unendlich viele Plätze frei waren. Es ist ein Gefühl, das von Gemeinschaft zeugt, auch in einem Land, das gegen uns ankämpft.

Sie hätten nicht erwartet, dass wir das Wort Heimat neu definieren können, losgelöst von der Erde, auf der wir stehen. Eine Wasserflasche wird mir in die Hand gedrückt, als sich das Gefühl der Trockenheit breitmacht. Ich lächle dankend nach links. Wärme breitet sich in meinem Bauch aus, als sie zurücklächelt. Diese fremden Menschen, die mir trotzdem bekannt vorkommen.

Wir drücken uns enger aneinander, weil mehr Menschen dazukommen. Menschen, die mir Hoffnung geben, weil ich mich zum ersten Mal nicht so fühle, als stünde ich am Rand der Gesellschaft. Dort, wo du so lange schreien kannst, bis deine Stimme bricht und trotzdem kein Gehör findest. Abends, wenn ich mich einrolle und meine Füße schmerzen, scrolle ich durch all die Videos von Menschen, die lächelnd in die Kamera blicken, weil sie trotz der Festnahmen wissen, dass sie das Richtige tun. Weil sie wissen, dass es weiterhin Menschen gibt, die da sind. Meine Stimmbänder spannen sich an, als ich erneut beginne zu brüllen.

„Free, free Palestine!“

Mein Blick gleitet an den Häusern vorbei. Überall Menschen, die uns aus ihren Fenstern beobachten. Angewiderte Blicke, hoffnungsvolle Blicke. Blicke, die nicht verstehen, während andere ihr Leben lang darauf gewartet haben.

Ich denke oft an meine Eltern, wenn meine Lunge zu schmerzen beginnt. Ich denke daran, wie wir in der Küche sitzen. Meine Mutter am Herd, mein Vater hinter der Zeitung, meine Geschwister daneben, schreiend, kämpfend, lachend. Bilder, die ich ihnen zeige. Menschen, von denen ich ihnen erzähle.

„Sie gehen auf die Straße. Hört ihr nicht, wie laut wir sein können?“

Mama blickt mich belustigt an. Diese Jugend, die für jede Kleinigkeit auf die Straße geht. Mein Vater schaut argwöhnisch. „Hast du nicht andere Dinge zu erledigen?“

In solchen Momenten verstehe ich sie nicht. Verstehe nicht, warum sie nicht kämpfen, sondern immer nur still in ihren Häusern sitzen.

„Das ist der Moment, in dem wir endlich etwas sagen können!“, brülle ich dann lauter.

Privilegiert. Ein Wort, das meine ältere Schwester ausspricht. Auf ihrem Gesicht derselbe Ausdruck wie bei meinen Eltern. Sie alle blicken mich so an – die Kleinste, Naivste, Hoffnungsvollste. Nur mein Bruder nickt mir leicht zu. Seine Finger, eingeweicht in Fett, als er mit den letzten Rest Brot durch die Suppenschale fährt.

Er war es, der mich zum ersten Mal auf eine Demo mitnahm. Meine Angst, dass ihm etwas passieren könnte, dass sie ihn mir wegnehmen würden. Seine tiefbraunen Locken, die sich auf seinem Kopf kräuseln, verbunden mit Augen, die aus der Ferne immer schwarz wirken.

Wir waren die Jüngsten von sechs. Die Einzigen, die in diesem Haushalt gelernt haben zu kommunizieren. Manchmal reden wir länger und lauter, damit es für alle reicht. Wir sprechen aus, was wir selbst nicht fühlen, aber in den Gesichtern unserer Geschwister sehen. Wir wissen, was es bedeutet, Angst vor Gefühlen zu haben. Immerhin sind wir in einer Familie aufgewachsen, die uns beigebracht hat, dass Gefühle einen verschlingen können. Aber wir hatten einander. Hatten den Raum, den uns unsere Ältesten freigeräumt haben.

„Sie wurden voller Scham geboren“, sagte mir mein Bruder. Der Zweitälteste. Sein Gesicht wirkte immer so, als würde es hinter einer Mauer verborgen bleiben. Keine Emotionen, nur seine Nase, die er kräuselte, wenn ihm etwas nicht gefiel.

„Probleme bleiben hinter verschlossenen Türen.“

„Aber genau darüber sollten wir reden. Warum sollten wir uns schämen? Dafür, dass sie uns doppelt und dreifach arbeiten lassen, nur damit wir Menschen sein dürfen?“

Er schüttelte nur den Kopf, drückte die Kippe aus, von der niemand außer mir wusste, und sprühte sich dann mit meinem billigen Deo ein. Er dachte tatsächlich, dass die anderen es so nicht merken würden.

„Sie haben keine Zeit für so etwas“, erwiderte meine älteste Schwester zu einem anderen Zeitpunkt, während sie selbst über den Bilanzen des Halbjahres hing. Damals wusste ich nicht, wie schlecht es unserem Restaurant ging, während ich mich wütend über sie aufbaute.

„Wie kann man bitte keine Zeit dafür haben, für sich selbst einzustehen?“

Sie schloss nur die Augen, zählte leise vor sich hin, bevor sie sich aufrichtete und mir die Zahlen unter die Nase hielt.

„Vielleicht, weil sie sechs Kinder zu ernähren haben.“

Sie war zu dem Zeitpunkt vierundzwanzig, alt genug, um ein eigenes Leben zu beginnen. Alt genug, um uns alle gehen zu lassen, aber sie blieb. Sie machte die Steuern, half im Restaurant aus, bereitete unseren Brüdern das Frühstück vor, machte mir die Haare und vergaß dabei ihr Studium nicht. Das Studium, das sie nie beendet hat, weil sie eines Tages einfach auf dem Boden liegen blieb. So lange, bis wir uns alle dazu legten und sie den Akt der Scham fallen ließ.

Ich habe meine Brüder gehasst, ich habe meine Eltern gehasst, und ich habe sie gehasst. Doch plötzlich verstand ich, was es bedeutet, dass die ältere Generation zwischen Scham, Druck und Leid verharrt, während die Jüngste sich löst, um die Welt anzuschreien.

 

Rauch steigt um mich herum auf, und panisch drehe ich mich im Kreis. Eine Hand greift nach mir, eine Hand, die mich führt. Um uns herum wird weiter gebrüllt, aber ich kann keinen klaren Gedanken fassen, weil mein ganzer Fokus darauf liegt, die Orientierung zu finden. Erst als sich der Rauch verzieht und ich die glatten, langen Haare meiner Schwester erkenne, löst sich das beklemmende Gefühl in meiner Brust.

„Was tust du hier?“, brüllt sie mir so nah ans Ohr, dass ich mich von ihr zurückziehe.

Ich frage mich, was sie hier tut, erkenne dann aber an der Umgebung, dass es ihre Wohngegend ist. Eine, die weit genug von uns entfernt ist, damit sie fliehen kann und doch nah genug, falls die Sehnsucht nach dem Lärm sie packt.

„Ich demonstriere.“

Sie verdreht nur die Augen über mich. Trotz meiner einundzwanzig Jahre nimmt sie mich immer noch nicht ernst.

„Weißt du nicht, wie gefährlich solche Demos sind?“, zischt sie, während sie mich aus der Menge zieht. Ich blicke über meine Schulter, um die Gruppe nicht aus den Augen zu verlieren, die mich aufgenommen hat. Doch durch den Rauch habe ich sie längst verloren.

„Was soll daran gefährlich sein?“

Wir stehen uns gegenüber. Ich bin mittlerweile größer als sie, aber es hatte keinerlei Effekt auf sie.

„Leute verlieren ihren Job, sie werden von der Polizei abgeführt, und es könnte eine Klage geben.“

Ich verschränke die Arme vor meiner Brust, eine Haltung, die ich immer einnehme, wenn sie mich so ansieht. Der Blick einer Mutter auf ihr Kind, das sie tadelt, nur dass sie nie meine Mutter war.

„Was für einer Klage bitte?“

Sie verdreht wieder die Augen.

„Gegen Antisemitismus.“

Ein spöttisches Lachen entfährt mir.

„Ach, plötzlich ist ihnen wichtig sich gegen Antisemitismus auszusprechen, aber die ganzen Jahre, in denen Nazis Gräber beschädigt, Wohnhäuser abgefackelt und Menschen getötet haben, waren egal?“

Genervt greift sie nach meinem Arm, um mich weiterzuziehen, aber ich drücke meine Beine tiefer in den Boden.

„Das brauchst du mir nicht zu erzählen. Denkst du, ich finde es toll, dass sie uns schon wieder all die Probleme aufhalsen wollen, mit denen sie schon vor uns nicht klarkamen?“

Auch sie verschränkt mittlerweile ihre Arme. Ich kenne sie und trotzdem ist sie mir immer fremd geblieben. Ein Vorbild, weit genug entfernt, um sie zu idealisieren, aber nie nah genug, um zu erkennen, was bei ihr falsch läuft. Sogar als sie auf dem Badezimmerboden lag, konnte ich nur daran denken, wie wunderschön sie ist. Denn ich wusste, sie würde wieder aufstehen. Aufstehen, ohne jemanden von uns zu brauchen. Sie hat dieses Leben gelebt – ohne uns und mit uns. Und die Einzigen, die sie brauchten, waren wir. Wir brauchten sie so sehr, dass wir nicht wussten, wer wir waren, als sie ging.

Noch heute ist es so, dass sie den Raum einnimmt, sobald sie durch die Haustür tritt. Und trotzdem war sie es, die alles verändert hat. Die meinen Brüdern gesagt hat, dass es reicht. Dass sie Menschen werden sollen und keine Männer. Die unseren Eltern gesagt hat, dass ich nicht ihr Ebenbild bin. Dass weder sie noch ich dafür zuständig sind, dieses Haus zu leiten, obwohl sie es bis heute tut. Sie war immer nur einen Anruf entfernt. Auch dann, wenn sie uns nicht ertrug.

„Davon können wir uns doch nicht unterkriegen lassen. Was sollen wir jetzt tun? Alle nach Hause gehen und Chai trinken?“

„Es sind genug andere Leute hier.“ Und trotzdem verstand sie oft nicht, worum es geht.

„Aber was, wenn jeder hier gesagt bekommt, dass es doch genug Leute gibt, und wir alle nach Hause gehen.“

Ihre Haltung entspannt sich. Ihre Augen werden mitfühlender, und ich hasse sie in diesem Moment, weil sie es immer schafft, mich dazu zu bringen, ihren Willen auszuführen.

„Ich weiß, wie wichtig das ist–“

„Aber“, unterbreche ich sie.

„Aber du bist hier ganz alleine, und wenn etwas passiert, wer wird davon erfahren?“, fährt sie unbeirrt fort.

Ich drehe mich von ihr weg und schaue der Masse entgegen, die an mir vorbeizieht.

„Ich bin nicht alleine“, erwidere ich trotzig.

Ich höre ihr Seufzen hinter mir. Dieses erwachsene Seufzen, das sie schon mit fünfzehn beherrschte.

„Nein, du verstehst es nicht.“ Ich wirbele zu ihr herum. „Die Momente, in denen du alleine bist und dich im Raum umsiehst, bis du die Leute erkennst, von denen du weißt, dass du zu ihnen gehörst – genau damit haben wir doch überlebt. Die Schule, die Arbeit, das System. Ja, niemand ist genau wie wir. Niemand kennt unsere eigene Leidensgeschichte so gut wie wir, aber wir sind Spezialisten darin geworden, Räume zu schaffen, in die wir eintreten können. Genau deshalb bin ich auch nicht alleine.“

Ich fühle mich außer Atem, als ich zu Ende spreche, und wir uns einfach nur entgegenblicken. Sie sieht so anders aus als ich. Niemand hat uns je für Geschwister gehalten. Dort, wo sie unserem Vater ähnelt, komme ich ganz nach unserer Mutter. Nur unsere Brüder waren eine Mischung aus beiden. Die Mitte, die wir nie gefunden haben.

Ein Zittern durchfährt sie, und ich kann nicht sagen, ob es die Wut auf mich ist oder die Ehrfurcht vor der gesamten Situation. Die Erde bebt leicht unter unseren Füßen, während die Menschen immer weiter an uns vorbeiziehen. Ältere Menschen, denen es schwerfällt mitzuhalten, stehen am Straßenrand und halten kleine Fahnen hoch. Aber all das scheint irrelevant, als wir uns weiter anblicken und ich die Minuten zähle, bis sie endlich ihren Mund öffnet, nur dass nichts herauskommt.

„Ich verstehe mittlerweile, warum unsere Eltern so sind. Ich verstehe, dass sie größere Probleme hatten. Es ging nicht nur um sie, sondern auch um dich und die anderen, die sie ernähren mussten. Sie blieben still, damit wir Heimat finden konnten. Aber es ist so verdammt schwer, Heimat zu finden. Weißt du, wie lange ich gebraucht habe, um wenigstens ein bisschen Frieden zu finden, zwischen den Menschen, die mich verstehen? An manchen Tagen halte ich es immer noch nicht aus. Und ich verstehe nicht, wie ich es jemals aushalten soll. Wie schafft ihr das nur? Wie schafft ihr es, zu leben, obwohl alles immer ein Kampf ist?“

Tränen drücken gegen meine Augen, und weil sie meine Schwester ist, lasse ich sie über meine Wangen laufen. Sie war diejenige, die nie geweint hat, damit wir es tun konnten. Diejenige, die Gewalt ausgehalten hat, damit wir es nicht müssen. Aber selbst sie konnte uns nicht vor der Gewalt schützen, die dieses Land uns antut. Wie könnte sie auch? Wenn sie doch nur am Straßenrand stehen bleibt.

Manchmal dachte ich, ich wäre anders als sie – besser, klüger, reifer. Ich hatte das Leben verstanden, weil ich mich aus dem Käfig befreit hatte, in dem sie immer noch gefangen war. Doch es dauerte nicht lange, bis ich begriff, dass sie im Käfig bleiben musste, damit wir ausbrechen konnten. Sie spricht von einem anderen Land, wenn es um Heimat geht. Es ist anders, wenn ich darüber spreche, als wenn sie es tut. Für mich war es nur der Urlaub, den ich nie wollte. Ich wollte Strand, Meer, Sonne, bekam aber nur Sonnenbrand neben Ziegen, die mich anflehten, sie zu füttern. Es war ein Stück meiner Heimat, barfuß zwischen der Erde zu stehen, mit Dreck unter den Nägeln und frisch geernteten Tomaten in den Händen. Aber für sie war es alles.

Unsere Sehnsüchte waren unterschiedlich. Dort, wo sie sich nach etwas anderem sehnt, möchte ich einfach einen Ort finden, an dem ich mich weniger fremd fühle. Vielleicht braucht sie diese Demos nicht, weil sie sich nicht verzweifelt an alles klammern musste, um zu beweisen, dass sie genug ist.

Seht her, ich habe einen Migrationshintergrund. Ich spreche eine andere Muttersprache. Seht her, aber bitte nicht zu genau, weil ihr dann erkennt, dass ich genauso deutsch bin wie jeder andere Deutsche. Seht nicht hin, weil ich sonst kämpfen muss, um mein deutsch sein zu beweisen, während ich zu Hause darum kämpfen muss, ein Teil von ihnen zu sein.

Nur ein Teil von etwas sein – das wollte ich. Aber sie braucht das nicht, weil sie weiß, dass ihr Teil woanders liegt.

„Ich ertrage es, weil ich keine Zeit dafür habe.“

Eine Aussage, die sie von unserer Mutter gestohlen hat. Unsere Mutter, die keine Zeit für Langeweile, Faulheit, Krankheiten und das Leben hatte. Heute ist es meine Schwester, die keine Zeit dafür hat.

Und irgendwo hat sich diese Haltung bewährt, nur dass niemand eine Fassade ewig aufrechterhalten kann. Trotzdem hat meine Schwester es vierundzwanzig Jahre lang geschafft. Vierundzwanzig Jahre, in denen sie keine Zeit hatte, sich ihrer Angst hinzugeben, bis diese sie schließlich eingeholt hat.

Geräuschvoll ziehe ich meine Nase hoch, um gleich darauf aggressiv darüber zu wischen.

„Ich habe für nichts anderes Zeit, weil ich an nichts anderes denken kann.“

Ihre Augen liegen immer noch mitfühlend auf mir.

„Du musst aufhören, alles um deine Migration drehen zu lassen. Du machst dich selbst klein, indem du nur einen Teil von dir selbst zulässt.“

Und ich wünschte, ich könnte es. Ich wünschte so sehr, dass ich aufhören könnte, mich selbst zu reduzieren.

„Ich kann aber nicht. Ich kann kaum denken, atmen, leben, ohne daran zu denken, was mir angetan worden ist. Plötzlich singen die Leute auf Sylt, dass wir raus sollen aus diesem Land. Andere machen Pläne, damit man uns abschieben kann, und gleichzeitig gewinnt die AfD immer mehr Stimmen. Ich kann in diesem Land nicht atmen, obwohl ich nichts anderes kenne. Das hier gehört mir, aber sie nehmen es mir weg, verstehst du? Ich habe Angst, und nichts kann mir diese Angst nehmen, weil mir niemand unsere Geschichte nehmen kann.“

Mein Vater, der jahrelang gearbeitet hat. Meine Mutter, die keine Zeit hatte, Deutsch zu lernen. Meine Schwester, die all das übernehmen musste. Mein Bruder, der eine Hauptschulempfehlung bekam. Mein anderer Bruder, der von vornherein die Schule aufgegeben hat. Und der Jüngste, der jetzt Lehramt studiert, weil er der Einzige ist, der rebelliert.

„Vom Klassenclown zum Lehrer. Die Wichser werden schon sehen“, sagt er, mit diesem schiefen Grinsen auf den Lippen, während wir vor dem Netto hocken, der seit unserer Kindheit neben unserer Wohnung steht.

Ich kann an nichts anderes denken, und tagtäglich fallen mir immer mehr Sachen auf. Dinge, die irgendwo tief verdrängt in meinem Kopf gelebt haben. Die Kinder, die über meine Armbehaarung lachten. Die Lehrer, die meinen Eltern sagten, sie sollten aufhören, mir Essen mitzugeben, weil es so stinken würde. Die Schönheitsideale, denen ich mich jahrelang hingegeben habe. Die Polizei, die unseren Kofferraum durchsucht. Wieder die Polizei, die in unsere Wohnung möchte, weil ein Verdacht auf Gewalt vorliegt.

„Das liegt daran, dass du in diesen Blasen bist. Du hältst dich darin auf, und ihr zieht euch alle gemeinsam runter.“

Sie sticht mir mehrmals in die Brust, und genervt schlage ich ihre Hand weg. Ein Lächeln zuckt über ihre Lippen, weil sie es liebt, mir auf die Pelle zu rücken, bis ich sie wegscheuche.

„Es hört aber nicht auf. Wenn du einmal siehst, was falsch läuft, gibts kein Zurück mehr.“

Sie wusste, wovon ich spreche, weil sie eine Frau ist und es uns anerzogen worden ist, Angst vor der Welt zu haben.

Sie zieht ein Taschentuch aus ihrer Handtasche. Eine, die sie von Mama geklaut hat, damals, als wir in unserem Haus waren. Das Haus mit den Ziegen und den Tomaten. Tief hinter all den Klamotten hatte sie diese Handtasche gefunden, gefüllt mit Liebesbriefen von unserem Vater. Wir haben sie kichernd durchgeblättert, bis mein Vater kam und uns die Briefe beschämt aus der Hand gerissen hat.

Er spricht nicht viel, hat er damals nicht, tut er heute nicht. Aber meine Brüder sagen mir, er ist anders mit mir. Die kleine Prinzessin, die er endlich bekommen hat, nachdem er seine Älteste zum Ebenbild unserer Mutter gemacht hat und unsere Brüder zu Nichtsnutzen erzogen hat.

Mich durfte er einfach lieben, und das tat er. Keine Grenzen, die ich lernte. Kein Hass, mit dem ich erzogen wurde. Ich liebe ihn, und er liebt mich. Und obwohl ich ihn manchmal dafür hasse, dass er die anderen nicht so sehr liebt wie mich, kann ich nichts gegen die Wärme in meinem Inneren tun, wenn wir abends zusammen auf der Couch sitzen und ich mit ihm einen alten Barbie-Film schaue.

Meine Geschwister hassten mich dafür, bis sie merkten, dass ich nichts dafür kann. Und dann hassten sie mich noch mehr, weil ich seine Liebe verdient habe, ohne groß etwas dafür zu tun.

Wir lebten in einer Beziehung, in der wir uns hassten, weil unsere Eltern Lieblinge hatten, und in der wir uns liebten, weil wir nur einander hatten. Denn egal, wie individuell unsere Leidensgeschichte sind, niemand kennt sie so gut wie die Menschen, mit denen du aufwächst. Die, die dieselbe Geschichte wie du erzählen – wenn auch aus einer anderen Perspektive.

 

Ich ziehe ihr das Taschentuch grob aus der Hand, aber als ich meinen Blick auf die Handtasche fallen lasse, bringt es doch ein Lächeln auf meine Lippen.

„Sie fällt total auseinander.“

„Tut sie nicht.“ Sie drückt die Tasche an ihre Brust, und manchmal finde ich es faszinierend, wie sehr sie an den Sachen unserer Eltern festhielt, obwohl keiner von ihnen beiden sie genug liebte.

„Ihr tut das“, sagte sie einmal zu uns, als wir bis tief in die Nacht im Zimmer unserer Brüder saßen. Irgendein schlechter Horrorfilm, eine Shisha zwischen uns, die der Zweitälteste besorgt hatte, und die Gespräche, die nur abends entstehen. Wir haben uns alle zu ihr rüber gelehnt und nicht über die Tränen gesprochen, die unbewusst über ihr Gesicht liefen.

Sogar der Zweitälteste lehnte sich in die Runde, nahm sie in den Arm, solange, bis sie ihn gegen die Brust geschlagen hat und den nächsten Witz rausgehauen hat, der gegen ihn gerichtet war. Zu der Zeit ließ er sich einen Bart wachsen. Es war eine schlimme Zeit für alle Beteiligten.

Ich drehe mich halb von ihr weg, als ich die Farben erblicke, die sich im Rauch vermischen: Grün, Rot und Weiß. Farben, die uns verboten worden sind. Ich bemerke, dass die Polizei näher zusammenrückt, vorsichtiger, aufmerksamer. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie verkünden, dass wir eine Gefahr sind. Auch die Masse bemerkt die angespannte Stimmung, denn die ersten Menschen beginnen, sich gegen die Polizei zu lehnen. Männer, die meinen Brüdern ähneln. Kampf statt Flucht, solange bis nichts mehr von einem übrig bleibt.

 

„Was bist du?“

„Was meinst du?“, entgegne ich verwirrt.

„Kampf oder Flucht.“

Mein Bruder, derjenige, der eigentlich immer vergessen wird, weil die Mitte kaum überschaubar ist bei so vielen im Haus, zieht eine Zigarette heraus, die er nicht rauchen wird. Er wird sie bloß verstecken, damit der Zweitälteste sie nicht mehr finden kann.

„Natürlich Kampf.“ Ich grinse breit, als ich mich rückwärts auf sein Bett fallen lasse. Die anderen zwei haben ein Hochbett. Eines, das ihm damals gehörte, aber weil der Jüngste den Platz unten haben wollte, musste er abtreten.

Er lässt sich mir gegenüber auf einen alten Schreibtischstuhl fallen. Der Schreibtisch dazu fehlt, seitdem ein drittes Bett ins Zimmer musste.

„Es ist bestimmt einfach‚ Kampf‘ zu sagen, wenn man noch nie kämpfen musste.“

Seine Stimme klingt angespannt, ein wenig wütend, obwohl er eigentlich nie wütend wird.

„Du glaubst, dass ich noch nie kämpfen musste? Du vergisst wohl, dass ich eine von zwei Schwestern bin in mitten von drei Brüdern.“

Seit Kurzem liest er feministische Literatur, und manchmal ging er so weit, dass er uns Dinge erklärte, die wir schon längst wussten. Er schämte sich danach, aber er suchte den Austausch, den er mit niemand anderem fand – nur wählte er den falschen Raum dafür. Manchmal ließ ich ihm Bücher auf seinem Bett liegen, die ich vorher gelesen und markiert hatte. Daraufhin legte er mir das Buch zurück, versehen mit seinen Gedanken, und so lasen wir manchmal ein Buch zwei- bis dreimal, weil jedes Mal so viele neue Gedankenimpulse dazukamen, dass wir es immer wieder als Ganzes neu lesen konnten. Er war der Schlaueste von uns, nur bemerkte das niemand. Selbst ich brauchte erst die Bücher, um es zu merken.

„Vielleicht klinge ich jetzt wie ein idiotischer Mann—“

„Vielleicht, weil du einer bist“, unterbreche ich ihn und kichere leise.

„Aber was musstest du selbst erkämpfen, wenn dir immer der Platz freigeräumt wurde von den Frauen vor dir?“

Mein Kichern verstummt. Ich sehe, dass er sich unwohl fühlt. Er neigt oft dazu, sich unwohl zu fühlen, wenn ihm bewusst wird, dass die Welt ihn als Mann wahrnimmt. Wir sprachen nicht oft darüber, aber jeder von uns sah es.

„Ich habe mir auch einiges selbst erkämpft.“ Ich wusste, dass ich defensiv klang, weil ich es auch war. Ich fühlte mich ertappt und ging in meinem Kopf jeden Schritt durch, der mir als Gegenargument helfen könnte, doch da war nichts. Nichts, was nicht schon für mich freigekämpft worden war.

„Ich würde trotzdem kämpfen. Es muss ja irgendwann mal ein erstes Mal geben.“

Ich schaue nicht zurück, als ich vorschreite und die Hand des Polizisten fasse, der gerade eine Frau zu fassen bekommen hat.

„Sie hat nichts getan“, brülle ich ihm entgegen, doch er schüttelt mich ab, deutet auf einen seiner Kollegen und dann auf mich.

Eine Hand reißt mich zurück, und ich stolpere durch die Masse. Die Menschen schreien um uns herum, singen, lachen, sogar dann, wenn sie abgeführt werden.

Meine Schwester zieht mich weiter an den Menschen vorbei, bis wir ein Teil davon werden und ich in das Gebrüll mit einstimme. Sie wirft mir einen Blick über ihre Schulter hinweg zu. Ihre Augenbrauen sind tief zusammengezogen. Ich hole sie ein, damit wir nebeneinander laufen können. Ihr Blick bleibt weiterhin kritisch, als sie an mir vorbei zu den Menschen blickt, die ihre Hände erheben, um gegen die Polizisten anzubrüllen. Sie können nicht alle von uns mitnehmen, nicht, wenn wir als Gemeinschaft stehen bleiben.

Ich reiße meine Hand in die Luft, die mit der ich meine Schwester halte, und sie blickt nur verwundert auf. Handys gehen in die Luft, um alles zu filmen. Niemand von uns wird das jemals vergessen, die Unmenschlichkeit, die gegen unser Recht verstößt. Und dann höre ich sie – die Stimme meiner Schwester, die mit einstimmt. Ihr Gesicht ist vor Wut verzogen, aber etwas bricht in ihr. Ein Teil, der schon immer losbrüllen wollte. Ein Teil, der kämpfen wollte. Nicht nur für ihre Familie, sondern auch für die Gemeinschaft, die wir sind in einem Land, das uns dazu erzieht, Einsamkeit zu fühlen, gefunden haben.

Unsere Füße treten im Einklang auf den Boden, während wir uns näher aneinanderstellen. Fast wie eine Mauer, die man kaum durchdringen kann. Ein weiterer Arm schlingt sich um meinen und auch um den meiner Schwester. Sie hört nicht auf zu brüllen, schreit und spuckt und flucht – erst auf Deutsch, dann auf der Sprache, die nur uns gehört. Sie stimmen alle mit ein, verschiedene Sprachen, die sich zu einer vermischen.

Das hier ist größer als wir alle, während es auf unser Leid aufbaut und trotzdem fühlt es sich weniger an, als das Gefühl der Heimat sich in mir ausbreitet.