Zwei Jahreszeiten

von Jane Stone

Es ist der Juni 2016.

Die Schule meines Örtchens hat einen üblen Ruf, also bin ich mit sechzehn ein Dauerpendler. Hanau ist keine Wahlheimat, aber hat schon seine Vorzüge.

PoWi gehört nicht dazu.

»Artikel 8 klingt auf den ersten Blick nicht so spannend.«

Heute auch auf den zweiten Blick. Die Sonne klopft an die Fensterscheiben unseres Klassenzimmers. Draußen wartet das Gras frischgemäht, wiegt friedlich im Wind. Drinnen steht Herr K. an der Tafel. Um uns zu umzustimmen, greift er tief in sich hinein. Mit einem lebhaften Funkeln in den Augen erzählt er davon, wie er in unserem Alter gegen Atomkraft demonstrieren gegangen ist. Hat den Protestmarsch sogar mitorganisiert. Hat sicherlich davon ein Gruppenfoto. Nach dem Stolz in seiner Stimme zu urteilen, hängt es eingerahmt in seinem Büro. Sicherlich blickt er alle paar Tage auf diese Wand und nickt. Eine seiner spaßigsten Erinnerungen. Mir schlechte mündliche Noten aufzudrücken ist die einzige andere Aktivität, die ihm je so viel Freude bereitet hat. Prompt kehrt er zum Herunterbeten zurück. Rechte, Freiheiten und Pflichten in 90 Minuten minus Fünfminutenpause. Die persönliche Anekdote krabbelt in meinen Hinterkopf, die Begriffe bleiben aber bloß Umrisse. Die Klingel. Endlich! Mir läuft der Speichel. Pommes in der Mensa und grüne Flecken auf meinen neuen Sneakern erhoffe ich mir für meine Zukunft. Kann es kaum erwarten.

 

Es ist der Juni 2019.

There is no Planet B.

Eine wahrscheinlich spontane Entscheidung. Studenten haben freitags immer Zeit. Nicht unweit von meinem neuen Campus kaue ich am schiefen Fingernagel meines kleinen Fingers. Klarer Himmel. Nicht zu warm. Das Wetter ist auf unserer Seite, die Klimaentwicklung nicht. Meine erste Demonstration. Angespanntes Warten trifft auf ein Musikfestival für die ganze Familie. Putzige »Omas gegen Rechts« winken ebenso putzigen Kleinkindern, die auf den Schultern ihrer Väter eindösen. Der Kreislauf des Lebens ist geschlossen. Irgendwo muss ich eine Lücke in meiner Größe finden. Zu viele Köpfe zum Zählen und dazu kenne ich niemanden. Hinten schwebt der Globus schon, während vorne das große Transparent zur Rettung des Stadtwalds noch über den Boden schleift. In der Mitte wabert ein Beat aus einem Lautsprecher. Die Schilder der Grundschüler wippen eifrig mit. In schief und bunt: Dinosaurier dachten auch sie hätten Zeit. Glitzer rieselt. Hätte ich mir auch einen cleveren Spruch gebastelt. Was sollen meine Hände jetzt machen? Die überschüssige Energie wandele in gemächliche Schritte um.

»What do we want? Climate Justice!«, brüllen die alten Hasen voller Selbstbewusstsein. Etwas Zeitverzögerung und die Küken kratzen all ihren Mut zusammen. Frage. Antwort. Meine Stimmbänder schlurfen dem Zug hinterher. Selbst in dieser wackligen Geräuschkulisse geht mein Murmeln unter.

Wie ein Wink des Schicksals treffen vor meinen Augen fünf Plakate zusammen, kommen zum Konsens: Eure Klimapolitik ist ein Witz aber keiner lacht.

Mit jeder weiteren Silbe beginnt sich meine Zunge zu lösen. Ich habe einen neuen Aggregatszustand entdeckt, eine neue Stufe der Anwesenheit. Eine Euphorie setzt ein. Größer können meine Augen nicht werden. Scheiße, dem Hitzekollaps entgegenzusehen hat noch nie so viel Spaß gemacht.

»Es gibt kein Recht auf Kohlebagger fahren!«

Uns doch egal, wie albern es klingt. Allein bin ich klein. In der Masse formen wir ein großes Wesen. Donner kündigt es an. Klarere Blick auch ohne Blinzeln. Der Körper furchtlos, die Gliedmaßen beständig mit stabilen Knochen. Seine Pupillen überragt die Banken, starrt sie nieder. Was wollen die da drin machen? Ein passiv-aggressives Post-It im Fenster? Unsere Konten einfrieren?

»When do we want it? Now!«, fordert das Wir, weil wir Recht haben.

Dort oben hört und sieht man uns. Dieser Moment fühlt sich echter als echt an. Wir laufen mitten auf einer leergefegten Straße. So leben also Autos. Hier könnte ich ein Haus hinbauen. Die Ampeln schalten auf Rot und wir bleiben nicht stehen.

»Motor aus! Motor aus!« begleitet von Trommeln.

Die Autofahrer müssen vor dem Gesetz kapitulieren und uns ziehen lassen. Dem Hupen würdigen wir nicht mal ein Zucken. Veränderung ist noch nie so greifbar. Ich bekomme ein Stück des Transparents zwischen meine Finger. Wenn man alle Proteste heute zusammennimmt, würden im Bundestag die Trommelfelle platzen. Schulter an Schulter teilen wir uns die Verantwortung. Von ganz vorne steht uns die Großstadt offen. Aus der glatten Schlucht der Hochhäuser rast eine scharfe Böe auf uns zu.

 

 

Es ist der Februar 2020.

Mein politisches Wesen ist reaktiviert. Doomscrolling gleicht einem Koma. Es war eine Pushnachricht, die meiner Schlaflosigkeit eine Begründung gab.

Ich konnte es nicht glauben. Ausgerechnet Hanau? Mein Daumen blutet vom Kauen, tropft auf meine Bettdecke. Der einzige körperliche Schaden auf meiner Seite, mein Handy der einzige Kratzer in meinem Sicherheitsgefühl. Ich kann aber nicht zur Seite springen, wenn mich die Motorhaube schon gestreift hat. Der Kratzer weitet sich zum Krater.

Ein Tag nach dem Terroranschlag findet die Mahnwache statt. Ich muss da sein. Selbstverständlich. Auf dem Hanauer Marktplatz fließt alle Machtlosigkeit zusammen. Ich lungere am Rand wie es sich für einen entfremdeten Bekannten gehört. Die Midnight Bar ist in Laufreichweite. Für einen Mittelschüler war sie das visuelle Highlight des Heumarkts. Ein fürs Tageslicht unzugängliches Mysterium permanent in Shisharauch gehüllt. Irgendwie erwachsen, irgendwie cool. Für mich ein einschüchternder Monolith, bis der schwarze Kasten mit der Volljährigkeit seine Anziehungskraft verloren hatte. Die Arena Bar war etwas weiter weg. Wenn man nach der Schule die Direktverbindung zum Hauptbahnhof verpasst hat, fuhr man mit dem Bus 10 an ihr vorbei. Für die eine Sekunde mehr Bildschirmzeit wandten sich meine Augen immer rasch von ihrer Fassade ab. In den Fotos erkenne ich sie trotzdem sofort wieder. Das Schild in einem Rot, dass gefühlt schon seit Anbeginn der Zeit ausgeblichen war. Schnörkelfont eines alten Spielautomaten. Interessant für seine Stammbesucher und niemand anderen. Beide Gebäude wiesen die Aufmerksamkeit von sich weg, versuchten sich vergeblich vor der Außenwelt zu schützen.

Jetzt stehen wir alle in der Kälte, die die Nacht des 19. zurückgelassen hat. Belanglose Reden plätschern über uns hinweg. Hanaus Oberbürgermeister. Ministerpräsident. Bundespräsident. Altbekannte Mienen aus Verpflichtung hier – so wie ich.

Schweigen.

Der Faden ist gespannt. Die Mundwinkel zwinge ich still. Reicht die Betroffenheit in meinen Augen aus? Kreisende Gedanken fressen weiter an der Gravitas, aber keines unserer Gehirne kann einfach abschalten. Das hier ist eine kollektive Runde ununterbrochenes Nachdenken. Selbst die Statue der Brüder Grimm grübelt vergeblich. Beide trauen sich nicht, uns in die Augen zu sehen. Dunkelheit bricht an, Nieselregen folgt. Die Übergangsjacke ist zu bunt, aber nützlich. Auf Anraten des Wetterberichts schneidet mir mein entbehrlichstes Paar Turnschuhe in die Füße.

Horchen. So viele Menschen an einem Ort lässt die Furcht am Rückgrat picken. Eine weitere Tragödie ist vielleicht nur eine Person entfernt. Die ersten Sekunden springen die Blicke von Ecke zu Ecke, legen sich schon eine Fluchtroute zurecht. Irgendwann löst sich die Sorge in der anhaltenden Stille auf. Nun avanciert Atmen zum größten Risiko. Ein Husten und die Andacht liegt in Scherben vor uns. Die Schweigeminute darf nicht auch noch geraubt werden. Mit welchen anderen Gedankengängen soll ich die Stille füllen? Das frage ich mich bei jeder Beerdigung. Wird sich die Wunde schließen? Mein Daumen tropft auf den Boden.

 

Es ist der Februar 2024.

So wenige Masken zu sehen, fühlt sich immer noch falsch an.

»Nehmt euch Schilder, wenn ihr sie braucht«, ruft einer der Ordner.

Auf der Vorderseite stehen die Namen der Opfer, ihre Gesichter daneben. Ich entscheide mich für Mercedes Kierpacz. Ich bin eine Frau, vielleicht habe ich mir deswegen ihren Namen eingeprägt. Es ist heute auch ihr vierter Todestag. Eine Gedenkdemo für sie und die anderen Opfer. Eine Sprecherin der Opferinitiative hatte bei der Anti-AFD-Demo letzten Monat darauf aufmerksam gemacht. Langsam akzeptiere ich, dass das nachhaltige Aufrütteln des Status Quos wohl allein Protesten vor meiner Geburt vorbehalten sind. Dennoch stelle ich meinen Körper bereit, damit die Zahlen im Regionalfernsehen ermutigend klingen. Demonstrieren ist die kleinste Sache, die man machen kann. Wohl immer und immer wieder machen muss. In einem AFD-Deutschland möchte ich keinen Körper haben. Wirklich ein Glück, dass ich an beiden Terminen teilnehmen kann. Mit dem Schild in der Hand erfüllt mich die Wehmut. Diese Menschen können wir nicht mehr beschützen, aber hier können wir zumindest sicherstellen, dass die Schilder mit ihren Namen unversehrt bleiben.

»Hanau war ein Mord! Widerstand an jedem Ort!«

Die Menschenmenge ist durchzogen von ihren Gesichtern. Mercedes sticht heraus. Sie ist die Einzige mit einer Sonnenbrille. Vielleicht war das ihr Lieblingsaccessoire, etwas mit dem sie sich wohlfühlte. Vielleicht war es das Foto, das ihre Familie am meisten von ihr mochte. Vielleicht war es einfach das Erste, das zur Hand war. In einer besseren Welt wäre Mercedes eine unbekannte Lebende geblieben. Ich wäre, ohne es zu bemerken, an ihr vorbeigelaufen und sie an mir.

»Ganz viel Polizei und keine Gerechtigkeit!«

Ich stimme mit ein. Unser Polizeirevier hatte seinen eigenen Nazi-Chat. Wir werden von Balkonen aus gefilmt, von den Seitenstraßen aus angestarrt.

»Nazis morden, der Staat schaut zu, Verfassungsschutz und NSU!«

Auf der Mitte der Strecke verrennt sich die Stimmung. Wir laufen für die, die es nicht mehr selbst tun können, doch verheddert sich die Menge in Small Talk. Ein paar bauen Zigaretten zusammen, andere greifen gleich zur Vape. Eine Mutter drückt ihren Kindern Streifen Gummisnacks in die Grabbelhände. Vor dem Schloss Philippsruhe winkt uns eine Braut aus ihrer Traumwelt zu. Kurzer Applaus fürs frischvermählte Paar.

»Ihr habt doch auch am Rand einer Demo geheiratet“, schwelgt die eine Oma gegen Rechts zur nächsten.

Die Blumen an den Gedenkorten sind frisch. Die Opferinitiative hat ihr eigenes Gebäude, eine selbstgewählte Erinnerungsstelle. #saytheirnames hängt in großen Buchstaben darüber.

Unsere Rufe ziehen sich durch die Stadt:

»Wo, wo, wo warst du in Hanau?«

Ich war nicht in Hanau. Meine Gedanken waren in Hanau.

Bei der Kundgebung kommen alle Sprechchöre zusammen. Wieder der Marktplatz, wieder Reden. Nicht die üblichen Gesichter, sondern Menschen, denen die Bühne unangenehm ist. Der Vater eines der Opfer entschuldigt sich für sein Deutsch.

»Brauchst du nicht!«, versichert ihm ein Fremder aus dem Publikum.

Die Glocken des Rathauses bimmeln munter neben einer Frau, die grade darüber berichtet, wie der Leichnam ihres Cousins nicht zur Familie nach Rumänien gebracht werden konnte.

»Der Friedhof ist unser Wohnzimmer geworden.«

Wie verpackt man seine eigene Realität in verständliche Stücke? Das für einen Offensichtlichste ausbuchstabieren?

»Sie sind nicht nur Opfer, sondern auch Familienmitglieder und Mitglieder ihrer Communities, die von uns genommen wurden.«

Alle Mühe liegt dort vorne bei den Angehörigen. Organisation der Location, der Mikros, der Lautsprecher, damit man sie endlich hört. Was bieten ich ihnen im Gegenzug? Bloß verständnisvolles Nicken. Ich gebe einen miserablen Seelsorger ab.

Forderung nach Aufklärung, ihre Warnung vorm Rechtsruck, ihre Sorgen für die Zukunft. Wir dagegen umklammern vor allem das Emotionale und das Persönliche.

»Sie war meine erste Tochter. Sie war ein Traumkind vom Anfang bis zum Ende.«

Tränen sind ein Privileg von uns Zuhörern. Leute legen ihre Köpfe auf die Schultern ihrer Nachbarn.

»Er hatte immer gesagt: Man ist erst tot, wenn man vergessen wird.«

Ertappt schaue ich weg, suche nach den anderen Gesichtern in der Menge. Nach all den anderen Namen, die mir entfallen sind, und den Menschen, die zu ihnen gehörten. Gökhan, Sedat, Said Nesar, Hamza, Vili Viorel, Fatih, Ferhat, Kaloyan. Als die letzte Rede verklingt, platziere ich Mercedes‘ Schild in die offene Ikeatüte des Ordners. Ihr Gesicht gehört nun wieder allein ihren Hinterbliebenen, steht für das nächste Gedenken bereit.

In vier Jahren werde ich nochmal hier stehen wie der Tourist, der ich bin.