Im Osten nichts Neues?

von Christopher Schulz-Kruckow

Mein Onkel war ein entschlossener Mann. Nicht in der Art, wie es ein Daniel Craig als James Bond und auch nicht wie es Peter O’Toole als Lawrence von Arabien waren. Nein, mein Onkel war weder Agent noch Revolutionär und obwohl er sich das insgeheim immer ein bisschen einbildete, auch kein Filmheld. Doch so sehr die Unterschiede zwischen meinen Kindheitshelden und ihm auch sein mochten, so hatte er früher (jedenfalls) eines mit ihnen gemeinsam, er hatte einen Auftrag und er hatte eine Waffe.

Wir schreiben das Jahr 1989: Die Amerikaner hatten am 4. Januar zwei libysche MiG über dem Mittelmeer abgeschossen. Ein Vorfall, der zwar stark an Top-Gun erinnert, tatsächlich aber nicht als Inspiration für den Film diente. Honecker, Verzeihung: Genosse Honecker, versicherte am 19.1., die Mauer würde in 50 und auch noch in 100 Jahren stehen, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt wären. Ein Tag später wird George H.W. Bush der 41. Präsident der Vereinigten Staaten. Soweit erscheint alles wie gehabt und nichts besonders erwähnenswert, doch das sollte sich im Verlauf dieses Jahres noch ändern …. In Leipzig finden am 4. September die sogenannten Montagsdemonstrationen ihren Anfang. Damals noch, tatsächlich für Freiheitsrechte einstehend, fordern sie die allgemeine Reisefreiheit und die Abschaffung der Staatssicherheit. Mit diesem kleinen Funken entstand ein Lauffeuer, dem die DDR-Führung keinen Einhalt mehr gebieten konnte. Die Montagsdemonstrationen wurden von nun an jeden Montag abgehalten. Schließlich lässt Ungarn am 10.11. DDR-Staatsbürger in den Westen ausreisen. Bis Ende Dezember werden über 30.000 DDR-Bürger auf diese Weise das Land verlassen. Nachdem die Montagsdemonstrationen kontinuierlich an Teilnehmern gewinnen und Erich Honecker zurücktritt, kommt es am 9.11. zur berühmten Verkündung von Günter Schabowski: „Nach meiner Kenntnis ist das sofort – unverzüglich.“ Gemeint war hier die allgemeine Reisefreiheit und somit das Ende der DDR. Hier könnte die Geschichte bereits enden, zumindest die der DDR. Doch das ist weder die Geschichte der DDR noch die des deutschen Volkes, sondern die, vom zu diesem Zeitpunkt 20jährigen Unterfeldwebel Berg des 1. Mot.-Schützenregiments der NVA, kurzum die Geschichte meines Onkels.

Es ist ein kalter, regnerischer Tag. Berg sitzt am Tisch des Gemeinschaftsraums. Vor ihm steht ein Teller mit lustlos umhergeschobenen Linsen und einem nur halb gegessenen Stück Schweinenacken. Der junge Mann mit den kurzen, schwarzen Haaren sieht aus dem Fenster auf den Appellplatz. Da hängt sie, die Fahne der Deutschen Demokratischen Republik. Traurig und vom seit Stunden anhaltenden Nieselregen durchnässt, macht sie einen erbärmlichen Eindruck. Ansonsten ist der Appellplatz leer. Nur eine einsame Patrouille läuft mit der Maschinenpistole über das olivgrüne Regencape geschultert vor dem Zaun der Kaserne über die spröden, von Pfützen überzogenen Betonplatten auf und ab. Aus dem Wachhäuschen vor der Einfahrt auf das Kasernengelände steigt regelmäßig Zigarettenqualm. Es herrscht eine seltsame Stimmung. In der Kantine sitzen vereinzelt Soldaten und hängen ihren Gedanken nach. Manche reden leise miteinander, andere lesen Bücher und Unterfeldwebel Berg schaut aus dem Fenster. Der Himmel ist dunkel, aber nicht wirklich bewölkt. Es scheint eher so, als hätte sich eine öde graue Decke über die Kaserne gelegt.

Andre Berg schmunzelt unwillkürlich. Es ist eben jenes Schmunzeln, was ihm in Ost-Berlin, seiner Heimatstadt, schon so manch einen aufregenden Abend im Operncafé eingebracht hat. Er muss an all die durchzechten Nächte denken, an die Heimfahrten von der Kaserne nach Hause und vor allem an all die, nun nennen wir es spontanen Rendezvous, welche ihm in der Kompanie und vor allem bei seinen Freunden einen gewissen Ruf eingebracht haben.

Die Miene des jungen Mannes verdüstert sich, warum musste er ausgerechnet jetzt an so etwas denken? Schon seit 3 Tagen war eine strenge Ausgangssperre verhängt und die Kaserne von der Militärpolizei abgeriegelt worden. Doch damit nicht genug. Nein, sie erfuhren nicht einmal, was sich da draußen abspielte. Sowohl Radio als auch Zeitung und so ziemlich alles, was an Informationen außerhalb der Kaserne hinein gelangen konnte, war gestrichen worden. Nachrichtensperre, so nannte es der Kommandeur, verdammtes Spießertum, so nannte es Berg. Noch einmal atmete er tief durch. Alle Gedanken an diese seltsame Mischung aus Langeweile und Anspannung abschüttelnd, stand er dann auf. Entschlossen ging er aus der Kantine, über den langen gefliesten und seit der Ausgangssperre auf einmal peinlich sauberen Flur, hin zu den Mannschaftsstuben. Hatten die Demonstrationen zugenommen? Sicher, denn das letzte, was er mitbekommen hatte, war die Versammlung von Zehntausenden auf der Karl-Marx-Allee. Seine Gedanken überschlugen sich. Er erinnerte sich an seine Schulzeit, die vormilitärische Ausbildung, Freunde seiner Mutter, die hinter vorgehaltener Hand leise die SED verfluchten und sich darüber beschwerten, dass es mal wieder keine Bananen gab. Dann die Ausbildung, der Eintritt in die NVA, sein ganzes Leben war bisher in geordneten Bahnen verlaufen. Klar, Kritik übte jeder. Aber das war nichts, worüber man offen sprach, zumindest nicht vor dem 8. Bier. Und dann auf einmal die Montagsdemonstrationen, die  Grenzöffnung in Ungarn und der Rücktritt von Honecker, alles war so verdammt schnell gegangen. Ehe er sich versah, fand sich Berg in einer Zeit des Umbruchs wieder und, na ja, jetzt saß er zusammen mit der ganzen Division hier, kaute sich die Fingernägel ab und wollte eigentlich nur wissen, was da draußen vor sich ging. Für Andre gab es nichts Schlimmeres als das Warten und die Untätigkeit. Würden sie ausrücken? Und falls ja, wann? Würden sie die Grenze sichern müssen?
All diese Fragen verwirrten und schlugen aufs Gemüt.

Doch vielleicht konnte er etwas mehr in Erfahrung bringen. Vor der Tür mit der Nummer 72 blieb er stehen und blickte sich kurz um. Die Luft war rein, weder Offiziere noch Wachposten waren zu sehen. Entschlossen klopfte er an und trat dann ein. Auf einem der 3 Doppelstockbetten lag Torsten, der beste Freund von Berg und zu seinem Glück auch heute Morgen Diensthabende der Fernmelder. Torsten sah erschrocken auf, als sein Freund das Zimmer betrat. Seine Uniform hing unordentlich am Pfosten des Bettes und er schaute unruhig. „Na, was gibt’s, warum schleichst du dich so an mich heran?“ Torsten blickte Andre leicht spöttisch an und zog das Wort „rangeschlichen“ lächerlich in die Länge. Andre lächelte, dann schloss er die Tür. „Sag, gibt es was Neues?“ Er senkte seine Stimme, während er das fragte. Er zog seine Augenbraue in der Art fragend hoch, wie man es von Magnum kannte. „Andre, sag mal.“ Torsten stand auf und kam ein Schritt auf ihn zu. „Das kannst du doch hier nicht so einfach fragen, wegen dir komme ich noch in Teufels Küche!“ Unterfeldwebel Berg senkte verlegen seine Stimme. „Ja, Torsten, ich weiß, aber jetzt erzähl, was hast du heute gehört?“ Der wiegte den Kopf langsam hin und her. „Ach, du auch nichts Richtiges. Weißt du, ich hatte die ganze Zeit den Stellvertretenden im Nacken, der hat uns ganz genau über die Schulter geguckt.“ „Ja, na und? Was haben sie gefunkt?“ Andre war aufgeregt. Er gab sich nicht die geringste Mühe, das gegenüber seinem alten Freund zu verbergen. Torsten zog die Schultern nach oben, dann antwortete er: „Nichts Neues, die Demos kriegen immer mehr Zulauf und die Lage an der Grenze ist angespannt.“ Enttäuscht ließ der Berg die Schultern hängen, er hatte wirklich mit etwas Verwertbarem gerechnet. „Aber du, Andre, jetzt mal ehrlich. Die beiden Männer beugten sich noch ein Stück weiter vor. Torsten senkte die Stimme geradezu ins Unhörbare. Glaubst du wirklich, dass sie das zulassen?“ „Was die Demonstrationen?“ „Ja, ich meine ja nur, dass sie irgendwann entscheiden, dass …“ „Nee, Torsten, nee“, unterbrach Andre ihn. „Wenn sie das entscheiden, dann ist alles verloren, das würden die nicht machen.“

Kurz herrschte Stille zwischen den Beiden, in der sich die Freunde vielsagende Blicke zuwarfen.
„Na ja, und wenn“, antwortete Berg jetzt resigniert. „Wenn, dann können wir auch nichts ändern, bis es so weit ist.“ Ein Schrei hallte durch den Flur. „Antreten!“ Bevor die beiden überhaupt realisierten, was gerade passierte, standen sie zusammen mit den anderen Mannschaftsdienstgraden in Reih und Glied auf dem Flur. Ein Diensthabender stand breitbeinig neben dem Oberstleutnant, welcher die Hände hinter dem Rücken verschränkt zuerst über die Reihe der eilig angetretenen Soldaten und dann nach rechts in den abknickenden Flur blickte. Dann dröhnt er los „Aaachtung“. Um die Ecke kam ein Mann in Uniform. Der Oberstleutnant salutierte, ein Ruck ging durch die Reihen und alle Soldaten folgten seinem Beispiel. Bei dem Mann handelt es sich um Oberst Priemer, Kommandeur der 1. Mot. Schützendivision. Lächelnd erwiderte er den Gruß. „Stehen Sie bequem!“ Die Soldaten entspannten sich minimal, doch Andre schlug das Herz bis zum Hals. Ohne große Umschweife holt der Kommandeur einen Brief hervor. Sein Blick war fest auf die Soldaten gerichtet. Irgendwie hatte Andre das Gefühl, der Oberst würde ihn direkt ansehen. „Genossen.“ Der Oberst legte eine Pause ein, es herrschte absolute Stille. „Hiermit teile ich Ihnen mit, dass wir uns in erhöhter Gefechtsbereitschaft befinden.“ Andre hörte kurz auf zu atmen, umgehend spannte sich sein gesamter Körper an. Sein Herz pochte schneller als zuvor. „Die Lage an der Grenze hat sich verschlechtert. Sie werden als Vorauskommando verlegt, um die Grenztruppen bei etwaigen Ausschreitungen zu verstärken.“ Diese Nachricht schlug wie ein Blitz ein, umgehend waren die Anwesenden elektrisiert. Andre nahm aus dem Augenwinkel angespannte Blicke und mahlende Kiefer wahr. „Die Gefechtsbereitschaft ist unverzüglich herzustellen. Wir befinden uns nun auf Alarmstufe Gelb. Finden Sie sich vor der Waffenkammer ein.“ Ohne weitere Zeit zu verschwenden, drehte sich der Oberst auf dem Absatz um und die Offiziere trieben die Soldaten zur Eile an. Auch Andre rannte ohne nachzudenken mit Torsten zurück in seine Stube. Die Männer zogen sich die Felddienstuniformen an und zurrten die Stahlhelme fest, dann ertönte bereits der Ruf eines Offiziers. „Los, los, los, alle Mann zur Waffenausgabe!“ Andre befand sich neben Torsten, als sie im Laufschritt über den Appellplatz zur Waffenkammer liefen. „Ach du Scheiße, es geht los.“ Torsten stieß diese Wörter einzeln zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, sein Kiefer spannte sich stark an. Andre warf seinem Jugendfreund einen kurzen Blick zu. „Torsten, hey, wir stehen das gemeinsam durch.“ Andre nickte seinem Freund bekräftigend zu, tatsächlich fühlte er sich aber genauso wie dieser, wenn nicht schlimmer. Sicher, sie waren Soldaten und Andre hatte sich für die Laufbahn zum Unteroffizier 3 Jahre verpflichtet. Aber das hier, das kam nicht dem gleich, was er sich in seinen kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Andre  war bereit, seinem Land zu dienen und im Zweifel auch die DDR mit der Waffe zu verteidigen, denn dafür war er schließlich auch ausgebildet worden.
Doch die Grenze zu sichern, das hieß im schlimmsten Fall, auch auf Demonstranten und Flüchtende, auf einfache Menschen, wie seine Mutter, zu schießen. Andres  Gedanken rasten und er konnte nicht mehr klaren denken. Er wollte auf niemanden schießen, nicht so, nicht heute, nicht auf seine Leute. Bevor er den Gedanken zu Ende führen konnte, stand er bereits vor der geöffneten Waffenkammer. Ein glatzköpfiger Mann hielt ihm eine Maschinenpistole entgegen. „AKs-74 geladen und gesichert.“ Mechanisch erwiderte Andre, wie er es gelernt hatte: „AKs-74 geladen, gesichert und empfangen.“ Wenige Momente später befand er sich auf dem Appellplatz zusammen mit den anderen Unteroffizieren. Ein Offizier stellte die Disposition vor: „Führungsfahrzeug fährt voran, die anderen SPW …“ Doch den Rest bekam Andre nicht mehr mit. Er starrte nur die Fahne am Mast an. Er sah den Hammer, den Zirkel und den Ährenkranz. Er wollte, nein, er musste die DDR verteidigen. Denn ganz egal, was hier auch falsch lief, es war und blieb seine Heimat. Das Land, in dem er zur Schule gegangen war, das Land, in dem er seine Freunde hatte. Ja, seine Freunde, seine Familie, eben jene Menschen, die er im schlimmsten Fall an der Mauer wieder treffen würde.

Er in Uniform und bewaffnet und sie als Demonstranten, Angesicht zu Angesicht. Andre bestieg seinen Schützenpanzer und nahm als Kommandeur die Stellung in der offenen Luke ein. Die Infanteristen setzten auf und die Fahrzeugkolonne verließ das Gelände der Kaserne.

Auf ihrem Weg durch Potsdam sah Andre auf die Menschen. Sie blickten aus den Fenstern auf die an ihnen vorbeifahrende Kolonne. Er musste schlucken. Da waren auch Leute auf der Straße, auf dem Weg zur Straßenbahn oder nach Hause. Ganz normale Menschen wie er selbst, die ihrem normalen Alltag nachgingen. Doch was, wenn sie eben das nicht taten? Was, wenn das dieselben Menschen waren, die er an der Mauer wieder treffen würde. Was, wenn sie versuchten, die DDR zu stürzen? Alles verschwamm vor seinen Augen zu einem bunten Mischmasch jenes Lebens, an dem er nun nicht mehr teilnahm. Er war losgelöst, er war nun nicht mehr Andre, sondern Unterfeldwebel Berg, mit dem Auftrag, die Grenze zu sichern. Ob er jemals wieder nur Andre sein würde? Andre hörte das Rauschen des Funkgeräts, dann eine Stimme. Auf einmal hielt der SPW vor ihm an, die Kolonne stoppte. Unvermittelt fühlte Andre ein Ziehen an seinem Bein. Er blickte nach unten. Es war Torsten, umgehend zog Andre den Kopf zurück ins Innere des Panzers. „Andre, Andre, wir sollen umkehren!“ Berg warf Torsten einen fragenden Blick zu, er verstand die Welt nicht mehr. Auch der Fahrer und der Bordschütze horchten nun auf. „Was meinst du damit?“ Fragte der noch immer verwirrte Unterfeldwebel seinen Freund und Funker. Torsten strahlte über das ganze Gesicht. „Wir sollen umkehren, der Befehl zum Verlegen wurde zurückgenommen. Es gilt wieder die Alarmstufe Weiß.“ Andre atmete tief ein und lehnte seinen Kopf an die kalte Fahrzeugwand.

Die Kolonne kehrte um und Andre musste sich nicht der Situation stellen, von der er 15 Minuten lang dachte, sie würde sein Leben entscheiden. Und tatsächlich entschied sie sein Leben, doch das ohne dass er direkt daran aktiv wurde, denn nur wenige Tage später fiel die Mauer und somit auch die DDR. Mein Onkel erzählte mir diese seine Geschichte vor einigen Jahren, an einem Abend, an dem wir lange beisammen saßen. Torsten war bei uns gewesen und die beiden hatten viel über alte Zeiten geredet. Schließlich ging Torsten und ich fragte meinen Onkel, wie er den Mauerfall erlebt hätte, daraufhin erzählte er mir diese Geschichte. Wir tranken Whisky und ich hörte, was er damals dachte und fühlte. Irgendwann entschlossen wir uns, schlafen zu gehen. Die Sonne begann bereits, den frühen Morgen in dieses ominöse Hellblau vor dem eigentlichen Sonnenaufgang zu tauchen. Er ging bereits die Treppe zum Schlafzimmer nach oben, als ich endlich den Mut fand, die für mich entscheidende Frage zu stellen. „Hey, Onkel Andre.“ Er drehte sich auf dem Treppenabsatz um und lächelte mich müde an. „Ja?“ Ich fasste mir ein Herz und fragte ihn. „Hättest du damals geschossen?“ Mein Onkel zog seine Augenbraue in der Art hoch, wie ich es aus „Magnum“ kannte, und lächelte dann traurig. „Ich weiß es nicht.“