Der Bahnhof von Stratford war an diesem regnerischen Tag ein Mikrokosmos aus Eile und Geduld, durchsetzt mit den Geräuschen klappernder Kofferrollen.
Ein Kaleidoskop aus Bewegungen und Stimmen, ein stetes Fließen von Menschen und ihrem Streben. Regenschirme klappten auf und zu, Tropfen glitten über glänzende Fliesen. Es waren keine Tropfen, die etwas wuschen, sondern solche, die die Melancholie noch schwerer machten. Stratford Station, ein Ort, an dem Geschichten sich kreuzten, aufbrachen oder in der Eile verloren gingen.
Ein Mann saß auf einer hölzernen Bank. Lee Kwan – schwarzer Anzug, perfekt gebundene Krawatte, ein Regenschirm in der rechten Hand und ein Aktenkoffer zu seinen Füßen. Seine Augen hingen an der Anzeigetafel vor ihm. Sie flimmerte: Zug nach Oxford, verspätet um 15 Minuten. Es war eine vertraute Szene, eine Momentaufnahme von Alltag und Routine. Doch etwas in seiner Haltung erzählte von einer Tiefe, die über das Offensichtliche hinausging.
„Mein Name ist Lee Kwan,“ murmelte er innerlich, fast wie ein Mantra. „In ein paar Tagen werde ich siebenundzwanzig. Aber ich habe seit fünf Jahren keinen Geburtstag gefeiert.“ Nicht aus Vergessenheit oder Gleichgültigkeit, sondern weil an jedem dieser Tage Regen fällt oder fiel. Es gab keinen Streit in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft.
Sein Blick verlor sich in der Bewegung der Menschen.
Die Reflexionen der Regentropfen auf den Glasfenstern schienen Bilder hervorzurufen – Fragmente von Erinnerungen, die sich mit resonanter Abstraktion in weise filigranen Falten zusammensetzten. Der Regen klopfte sanft gegen die Bahnhofsüberdachung, ein unaufdringlicher Rhythmus, der ihn zurücktrug – nicht nach London, sondern in die vertrauten Straßen seiner Heimat, Hongkong.
Fünf Jahre waren vergangen, doch der Tag war noch so klar wie der Regen, der damals fiel. Das Tram View Café in der Innenstadt war mein Rückzugsort gewesen: ein kleiner Tisch auf der Terrasse, ein Burger, ein Lavendel-Latte, und die Karikaturen, die ich für die Universitätszeitung zeichnete. Die Kreise, die ich zog, wurden irgendwann gleichmäßig, und die Last verschwand.
Es war ein Ritual, das mir Halt gab inmitten der rastlosen Stadt.
Doch an jenem Tag vor fünf Jahren zwang mich der Regen, drinnen Platz zu nehmen. Das Innere des Cafés war erfüllt von gedämpften Stimmen, dem Geruch nasser Kleidung und dem kalten Hauch von Straßenwasser. Es fühlte sich an, als hätte der Regen die Welt draußen ausgewaschen und die Menschen hierhergespült.
Ich saß Mei-Yin gegenüber. Mein Blick sprang zwischen den Fensterscheiben und ihrem festen Ausdruck hin und her. Mei-Yin war mehr als ein vertrautes Gesicht in der Unruhe der Stadt – sie war eine angehende Journalistin, klug und unbeugsam. Ein Mitglied der Studentengruppe „Die Artisten“. Nachts verwandelten sie und ihre Mitstreiter die Wände der Stadt in mahnende Zeugen: Wandgemälde, die von Polizeigewalt erzählten. Ihr Motto:
„Wärst du ein Vogel, würdest du lieber singend sterben, als ein leises Leben zu führen.“
Sie sprach, und ich lauschte, auch wenn mein Blick zwischen den Tropfen an den Fensterscheiben und den Linien auf meinem Papier hin und her flüchtete.
Es gab keinen Raum für meine Worte – ich lauschte.
Ihr feuchtes, strähniges Haar fing das spärliche Licht auf, das sich durch ihre Brille brach. An ihre Worte erinnere ich mich noch genau. Es war nicht nur das, was sie sagte, sondern wie sie es sagte – wie Regen, der gleichmäßig gegen eine Scheibe prasselt: unaufhaltsam und klar. Sie sprach von Regenschirmen, die wie Schilde über der Stadt aufgespannt waren. Es waren nicht einfach Worte – es war ein Lied, das den Regen selbst zur Melodie formte.
Kwan zog sich die Krawatte zurecht und sah wieder zur Anzeigetafel.
Er mochte Regen. Früher zumindest.
Als Kind war der Regen ein stiller Spielgefährte gewesen, der die Straßen in glitzernde Abenteuer verwandelte. Er erinnerte sich an das Gefühl von Pfützen unter den Füßen und an die Wärme, die ihn umfing, wenn er durchnässt, aber glücklich nach Hause kam. Doch der Regen vor fünf Jahren brachte etwas anderes – eine Veränderung, die er nicht kommen sah. Nicht laut, nicht leise – sondern plötzlich.
Ich weiß noch, wie ich aus Resignation genickt hatte.
Was hätte ich auch tun sollen? Etwas sagen? Etwas ändern? Es gab nichts zu sagen, nichts zu ändern. Die Nachrichten über die Proteste verbreiteten sich wie eine Flut von Mund zu Mund. Die Apple Daily berichtete von über einer Million Menschen: Studenten, Arbeiter, Bürger aus allen Ecken Hongkongs – alle vereint gegen das Auslieferungsgesetz, das ihre Freiheit bedrohte.
Am 1. Juli 2019, kam ich von einem Kurztrip von Macau zurück.
Der Fernseher Zuhause lief, die Luft war so schwer wie die Nachricht, die der Bildschirm verkündete. Mein Vater schimpfte lautstark im Wohnzimmer, seine Worte malten brennende Fackeln in der Dunkelheit. Mutter bat ihn, nicht in der Vergangenheit zu leben, doch er ignorierte ihren Appell. Mit jedem Satz grub er tiefer in eine Zeit, die längst vergangen war. Er sprach von einer Zeit, in der Hongkong sich als Teil Chinas fühlte, bevor Maos Kulturrevolution alles zerstörte, bevor die Ströme der Flüsse Chinas die Toten dieser Revolution in die Gewässer Hongkongs spülten.
Er sprach vom Tian’anmen-Platz 1989, von Träumen, die dort in Blut erstickt wurden.
Und in diesem Schmerz hatte sich die Identität Hongkongs entwickelt.
Eine Identität, die nach Freiheit, nach Unabhängigkeit schrie.
Ein Lied, das auch Mei-Yin sang. Nicht laut, nicht leise, sondern voller Hoffnung.
„Kwan, hörst du mir überhaupt zu?“, hatte sie fragte, ihre Augen durchdrangen mich an jenem Tag im Café. Sie erzählte mir damals eine Geschichte. Doch sie war nicht die, die ich im Spiegel erkannte.
Ich hatte immer an eine Zukunft als Architekt gedacht, fernab von Politik und Protesten. Doch Mei-Yin veränderte etwas an diesem Tag. Es war nicht nur ihr Lächeln, das sanft und herausfordernd zugleich war. Es war die Art, wie ihre Worte damals Funken in mir entzündeten, die ich nicht mehr löschen konnte.
„Ich höre dir zu, Mei-Yin. Aber ich habe Prüfungen,“ hatte ich gesagt, um mich aus der Affäre zu ziehen.
Doch sie ließ nicht locker, sprach mit der Unnachgiebigkeit einer Gewitterfront, die keinen Unterstand duldet. „Weißt du noch, wer dir den Job bei der Uni-Zeitung verschafft hat? Wer dir den Auftrag für die Apple Daily ermöglicht hat? Du schuldest mir etwas, Kwan.“
„Schulden auszusprechen steht dir nicht,“ entgegnete ich, bemüht, den Tonfall sachlich zu halten, als wäre es ein Gespräch über das Wetter. „Du weißt, dass ich mich nicht für Politik interessiere.“
„Ach, erspare mir deine Ausreden.“ Ihre Stimme war ruhig, aber gefährlich nah daran zu brechen. „Wenn sie gewinnen, wenn dieses Auslieferungsgesetz durchkommt, wird die CCP und ihre Marionetten jeden jagen, den sie kriegen können. Jeden. Auch dich, Kwan. Und das weißt du.“
Ich schwieg. Ihre Worte hingen schwer im Raum, wie Regen, der die Straßen hinunterrinnt.
„Warum zeichnest du Karikaturen, wenn du nicht an ihre Botschaft glaubst?“ Ihre Stimme war leiser geworden.
„Ich weiß nicht.“ Es war die ehrlichste Antwort, die ich geben konnte, und gleichzeitig die feigste. „Vielleicht bin ich mit der Zeit… etwas konform geworden.“
„Konformität steht dir nicht.“ Sie lehnte vor, als wäre damit alles gesagt.
„Ich brauche dich, Kwan. Keiner ist besser dafür geeignet als du.“
Ihr Blick hielt meinen fest, und mir wurde klar, dass es kein Entrinnen gab.
Ich hatte mich oft gut geschlagen, aber in diesem Moment, als ihre Hand auf meiner ruhte, wusste ich: Es gab keine Remis. Dieser Moment war einer, der gewonnen oder verloren werden musste.
Tage später saßen wir in einer Straßenbahn. Die Nacht lag wie ein Vorhang über Hongkong. Regentropfen glitten über die Scheiben und malten das Porträt einer Stadt, der eine unklare Zukunft bevorstand.
Eigentlich hätten wir die Uni besuchen sollen, doch die Hörsäle waren nicht voll – sie blieben leer. Zahlreiche Studenten hatten den Unterricht verweigert, viele andere hatten sich auf Telegramm zu Gruppen formiert, um ihre Stimmen zu erheben.
Kwan erinnerte sich an ähnliche Szenen, als 2014 die Regenschirm-Bewegung die Straßen eroberte. Damals hatte er von oben herab zugesehen und sich gefragt, warum all diese Menschen auf die Straßen strömten.
Doch diese Nacht unterschied sich.
Die Menschen, die an uns vorbeizogen, bildeten eine Masse, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Studenten, Geschäftsleute, Bürger – alle gekleidet in Schwarz, ihre Gesichter hinter Atemschutzmasken und Schutzkleidung verborgen, die Schirme als Schild. Nicht vor dem Regen, nicht vor der Welt, sondern für Demokratie und Freiheit.
Es war, als ob die Stadt selbst erwachte, wie ein lebendiger Organismus.
Regen fiel auf unser Haar, auf unsere Haut, als wir aus der Bahn stiegen. Ich erinnerte mich noch, wie sich die Schritte in den Pfützen widerspiegelten und Neonreklamen wie flackernde Erinnerungen uns vorbei zogen.
Mei-Yin hatte meine Hand gehalten und rannte, sie rief: „Sei wie Wasser”, bevor ich den Regenschirm aufmachen konnte. Wir rannten nicht vor dem Regen, sondern mit einer bestimmten Dringlichkeit weiter die Straßen entlang, bis wir uns im dritten Stock eines Hochhauses wiederfanden.
Dort trafen wir die anderen Mitglieder von „Die Artisten.”
Das Apartment roch nach einer Mischung aus süßlich-bitterem Rauch der Zigaretten und dem metallischen Duft frischer Druckfarbe.
Es war kein gewöhnlicher Wohnraum, sondern ein Ort des Schaffens, eine Werkstatt, in der Poster, Druckmaschinen und verstreute Skizzenblöcke wie Zeugen eines unermüdlichen, kreativen Prozesses wirkten.
Unsere Regenmäntel hatten wir hastig abgelegt, und die feuchte Kälte draußen wich der Wärme und dem Summen der Maschinen.
Die Gruppe wartete bereits – zehn Menschen, jeder eine eigene Collage aus schwarzer Kleidung, ungezähmten Frisuren und Talenten, jedes Detail ihrer Erscheinung eine kleine Inszenierung ihres Individualismus.
Anfangs sprachen sie wenig.
Ich war nervös, meine Hände leicht verschwitzt, doch die Anspannung wich, als der Abend fortschritt. Sie kannten meine Kunst. Das allein hätte genügt, mich zu überraschen, aber es ging noch weiter: Sie wollten mich – als Illustrator, als Teil ihrer Gruppe.
Ich erinnere mich, wie Mei-Yin sagte „Du hast eine Stimme“. In diesem Moment, in diesem Raum, zwischen Lob und Geschichten, begann ich genauer hinzusehen. Zum ersten Mal sah ich nicht nur die Linien und Farben, sondern das, was dahinter lag. Die Bedeutung. Bis dahin war meine Kunst eine Last gewesen, eine Sprache, die mich entblößte. Eine Sprache, die ich nicht sprechen wollte.
Und dann fiel der Druck von mir ab. Plötzlich. Wie ein Mantel, den man abstreift, weil er nicht mehr passt. Es war nicht Befreiung, nein, es war eher ein leises Erkennen: Sie hatten eine Stimme, meine Stimme. Eine, die ich selbst nicht kannte.
Hongkong. Meine Heimat. Eine Stadt, die mich gelehrt hatte, was Freiheit ist. Und eine Stadt, die sie verlor. Wie lange noch konnte ich zusehen, wie ein Regime alles verschlang? Alles, was uns ausmachte?
Jeder wusste es. „Ein Land, zwei Systeme“ – das war immer eine Lüge gewesen. Ein Pakt, den niemand ernsthaft eingehalten hatte.
Dann saß ich da, spürte, wie die Worte von mir flossen: „Ich bin bereit, für meine Heimat zu kämpfen.“
War es Wut? War es Patriotismus?
Ich wusste es nicht mehr. In diesem Moment war da nur eine Stille in mir, eine Klarheit, die ich nicht erklären konnte. Mei-Yin hatte mich erstaunt angesehen. Ich hatte zurück gesehen, als ob wir uns gegenseitig prüfen würden.
Da saßen wir, am Tisch, Pläne schmiedend. Welche Wände? Welche Botschaften? Wie viele Poster? Es war absurd und doch so klar wie die Gläser, die wir zum Anstoß erhoben.
Ich hatte gezeichnet. Karikaturen, die beißen konnten. Spott, der traf. Banksy fiel mir ein, ein Name, der in mir zu einer Art Symbol werden würde. Und bevor ich begriff, was wir da eigentlich taten, saßen wir in einem Transporter. Vermummt, bereit.
Der Motor brummte monoton.
Menschen zogen vorüber, Gesichter, die keine Rolle spielten, vereinzelte Autos, deren Ziel wir nicht kannten, und Protestierende, die unter Regenschirmen verschwanden.
Wir waren Passanten unter vielen, ohne Name, ohne Bedeutung. Die Stadt existierte, Häuser, Mauern, Fenster – alles in einem Zustand, der sich verschob.
Die Geschäfte schlossen, die alten Männer an der Bushaltestelle warteten und die Leuchtreklamen flackerten.
Kwan dachte an das Bild von früher und sah auf seine Uhr, ein Reflex, der nichts veränderte.
Die Bewegung nannte sich: Sei wie Wasser. Ein kluger Name. Klug, weil man nicht wusste, wo sie als Nächstes auftauchen würde. Die Polizei wusste es jedenfalls nicht. Aber wir wussten es, weil es Wege gab, Dinge zu wissen. Kontakte. Nachrichten auf Telegram, verschlüsselt, aber klar genug. Und so hatten wir beschlossen, unsere Karikaturen entlang dieser Straßen anzubringen, dort, wo die Proteste fließen würden. Warum? Weil die Bevölkerung aufgerüttelt werden musste. Weil die Studenten Unterstützung brauchten.
Ich erinnere mich an die erste Nacht, als wir von Straße zu Straße zogen, die Hände noch klebrig vom Leim, der Pinsel halb ausgetrocknet. Der Lärm der Proteste war da, irgendwo hinter den Fassaden.
Wir arbeiteten zu Fuß, Tiger saß im Wagen, die Straßen mit unermüdlichen Augen suchend.
Die Regeln waren klar, wie die Pfützen, die wir vermieden: keine Namen. Nur die Codenamen und der Protest für Hongkong zählten.
Sie nannten mich Jiā, und es war mir recht. Jiā, der Maler, der Experte. Ein Name wie ein Etikett. Mei-Yin, die den Abend über an meiner Seite geblieben war, hielt die Kamera wie ein Teil von sich selbst. Sie war die Linse, unser Auge in der Welt, fest entschlossen, Momente einzufangen, die Worte nicht beschreiben konnten.
Wir hatten ein Poster aufgehängt, eine einfache Handlung, die doch von Anfang an unter Verdacht stand. Die Gasse war eng, die Dunkelheit wie ein Mantel, der uns zu schützen schien, bis sie aus den Schatten traten. Polizisten. Schlagstöcke. Ihre Fragen waren keine Fragen. Sie waren Urteile. Was wir hier machten, wollten sie wissen. Ihre Blicke sagten, dass es keine Antwort geben konnte, die uns retten würde.
Wir lernten, bei Nacht zu rennen. Es war keine Kunst, sondern eine Notwendigkeit. Der Transporter war längst verschwunden, eine verpasste Möglichkeit, die uns hätte retten können.
Also rannten wir, Hand in Hand, blind, gehetzt, wie eine Maus, die vor der hungrigen Katze flieht.
Der Regen setzte ein, und wir liefen weiter, ohne zu spüren, wie er unsere Kleidung durchtränkte. Wir waren Bewegung. Wir waren Wasser. Wir wichen den Menschen aus, die Gesichter schemenhaft, gleichgültig, niemand fragte, niemand hielt uns auf. Mei-Yin hatte die anderen kontaktiert, Telegram, die einzige Sprache, die sicher war. Die U-Bahn war unser Ziel.
Als wir die Station erreichten, erwartete uns ein Bild des Chaos:
Die Station war ein Schlachtfeld. Studenten, Gesichter, die nicht mehr Gesichter waren, liefen. Eine Gruppe Männer in weißen T-Shirts, bewaffnet mit Baseballschlägern, schlug wahllos zu. Schreie. Der Geruch von Pfefferspray und Angst lag in der Luft.
Wir sahen, wie Studenten versuchten, in die Züge zu fliehen, und wie sie niedergeschlagen wurden. Blut auf dem Boden, auf den Wänden. Die Polizisten standen abseits, sahen zu, oder taten so, als wären sie nicht Teil dieses Bildes.
Mei-Yin machte Fotos. Welche die trafen und andere die schmerzten.
Ich erinnere mich, wie ihre Hände sich bewegten, ruhig, präzise, obwohl alles andere in Bewegung war. Wir zwängten uns hindurch, irgendwo öffnete sich ein Weg und wir nahmen die nächste Bahn. Türen schlossen sich. Niemand sah uns. Niemand hielt uns auf.
Später, auf Telegram, teilten wir die Bilder mit vielen anderen Studenten.
Die Antworten kamen schnell und mit düsteren Neuigkeiten: Die chinesische Mafia hatte ihre Männer nach Hongkong geschleust, um uns zu brechen, um Angst zu säen.
Während der Zug durch die Dunkelheit raste, fühlte sich der Triumph des Entkommens seltsam hohl an. Die Stadt war ein Schlachtfeld geworden, und jeder Atemzug schien ein Akt des Widerstands.
Ich erinnere mich an den Morgen, als wäre er noch in der Luft, wie ein Traum, der nicht entweichen will. Der Raum war von dieser seltsamen Stille erfüllt.
Mei-Yin lag neben mir, der Duft von ihr noch in der Luft, ihre Haut warm, als hätten wir die Zeit selbst gestoppt.
Wir kannten uns seit meiner Kindheit, die Bewegungen des anderen, die Worte, die nie ausgesprochen wurden – und doch, gestern Abend, in ihrer Wohnung, war etwas passiert, das uns auf eine neue Weise zusammengeführt hatte. Es war nicht das weiche Zerren einer romantischen Idee, sondern ein Moment, der uns in seiner Intensität überrollte, wie eine Welle, die man nicht zurückhalten kann.
Freundschaft, die plötzlich an den Rändern verfloss, übergangen von einer Leidenschaft, die wir nie gesucht hatten, doch die nun zwischen uns stand. Kein Traum, keine Verwirrung – vielmehr wie das plötzlich aufflammende Fieber eines Körpers, der sich nach der Hitze einer Nacht sehnt.
Wir hatten uns im Bett versammelt, nicht in einer Erregung, sondern in einer seltsamen Vertrautheit, die sich durch das Sprechen über gestern, über die U-Bahn, über Hongkong, in uns einschlich. Der Ventilator an der Decke hatte monoton gesummt, als wäre er der einzige, der wusste, dass der Moment sich verflüchtigen würde.
Mei-Yin hatte leise gefragt: „Glaubst du, dass es besser wird?”
Ich antwortete nach einer kurzen Pause: „Was genau?”
Sie schaute in die Dunkelheit, als suche sie nach den richtigen Worten. „Alles. Die Stadt. Die Menschen. Wir. Das Datum, das sie uns eingebrannt haben: 1. Juli. Ein Vertrag, fünfzig Jahre. Ein Versprechen, dass alles bleibt. Sie nannten es „eine Brücke“, aber niemand sagte, was auf der anderen Seite sein würde. Die Briten gingen, die Chinesen kamen. Und wir blieben, wie immer, irgendwo dazwischen.”
„Besser ist relativ. Was willst du damit sagen?” fragte ich.
Mit ruhiger Stimme antwortete sie: „Besser als jetzt. Besser als immer dieses Gefühl, dass alles, was du tust, irgendwo auf einer Liste steht. 2003 sagten sie, es sei notwendig: ein Gesetz für die Sicherheit, für den Schutz. Ein Gesetz gegen die Freiheit, dachten wir, und gingen auf die Straße. Eine halbe Million, das größte Menschenmeer seit langer Zeit. Ein Sommer der Schreie, der Hitze, der Hoffnung, dass wir noch etwas ändern können. Das Gesetz wurde zurückgezogen. Damals glaubten wir, das sei ein Sieg.”
Ich erinnerte mich, wie ich voller Bitterkeit gelacht hatte. „Du meinst, wie damals, als ich den falschen Kommentar auf Weibo geliked habe?”
Mei-Yin schaute mich scharf an, ihre Stirn legte sich in Falten. „Es ist nicht witzig, Kwan,” sagte sie.
„Nein, ist es nicht. Aber was soll ich sagen? Dass ich hoffe, es wird besser? Dass sie irgendwann aufhören?” antwortete ich ernst.
Sie sah mich an, als könne sie meine Gedanken lesen: „Und tust du das? Hoffen? Wie die Regenschirmbewegung vor fünf Jahren. Ich war da. Wir hielten Regenschirme über unsere Köpfe. Ein Symbol, sagten die Zeitungen, ein Schutz vor mehr als nur Regen. Sie nannten es eine Bewegung, aber es war ein Aufschrei. Peking entschied, wer kandidieren durfte, und wir entschieden, dass wir das nicht akzeptieren. Am Ende blieben Tränengas, gebrochene Zelte und inhaftierte Anführer, wie Jimmy Lai.”
Ich zuckte resigniert mit den Schultern. „Hoffen ist… wie die Buchhändler, die 2015 verschwanden. Einer nach dem anderen, lautlos. Wegen Bücher, die man nicht lesen sollte, Bücher, die die CCP fürchtete. Fand man sie nicht später in chinesischen Gefängnissen, mit gesenkten Köpfen?”
Mei-Yin legte ihren Kopf auf meine Brust. „Aber ohne Hoffnung? Was, wenn Kämpfen alles ist, was wir können? Vielleicht bin ich naiv, aber ich glaube, dass etwas bleibt. Etwas von uns. Von dem, wofür wir stehen.”
Ich strich sanft über ihre Haare und antwortete nachdenklich: „Damals fragte ich meinen Vater, ob man Worte auslöschen kann, ob das Erinnern verschwindet, wenn niemand mehr da ist, der es erzählt. Er antwortete mir indirekt, indem er auf die alljährliche Erinnerung an das Tian’anmen-Massaker am Victoria Park verwies.”
Mei-Yin nickte nachdenklich. „Es gibt also keine kostenlosen Revolutionen, wenn ich Stellung beziehe, dann bleibe ich standhaft.”
Ich stimmte ihr zu, mein Blick fest: „Ja, egal ob CCP oder Mafia. Wenn wir stehen, stehen wir.”
Das war das letzte Mal, dass ich Staunen in ihren Augen sah. „Ich hätte nie gedacht, diese Worte aus deinem Mund zu hören. Das wird die Revolution unserer Zeit,” sagte sie, und ihre Stimme war zugleich weich und entschlossen, wie der Kuss, der darauf folgte – ein Kuss, der versprechen wollte, was wir nicht aussprechen konnten.
Der Sommer verging, als wäre er eine Parabel, eine Geschichte, die man erst versteht, wenn sie vorbei ist. Ich lernte mehr über Mei-Yin und mich selbst, als ich ertragen konnte. Wir hatten uns verschworen, ohne dass wir es aussprachen, und verbrachten die Nächte mit den „Artisten“. Ein Wort, das alles beschrieb, was wir sein wollten: gewagt, frei, unbesiegbar. Die Abende wurden gefährlicher, die Tage stiller. Wir lernten, bei Nacht zu rennen und bei Tag zu schweigen. Vielleicht war es diese Passivität, die alles so viel schlimmer machte.
Am Anfang gab es Worte aus der Bibel. „Wenn dich jemand auf die eine Wange schlägt, halte die andere hin.“ Wir hatten es geglaubt, weil wir glauben mussten. Aber über die Monate, als die Schläge härter und die Wangen zahlreicher wurden, war es nicht mehr möglich, daran zu glauben.
Wir erkannten, dass es nicht die Gewalt war, die uns zerstörte, sondern das Zuschauen. Die Welt sah uns zu, während Familien zerschlagen, Freunde inhaftiert wurden – ohne Hoffnung, ohne Antworten, nur die Stille hinter Zellentüren.
Dann kamen die ersten Flaschen. Hände, die noch am Morgen gezittert hatten, zündeten sie an. Rauch stieg auf, wurde zu einer zweiten Haut. Eines Abends verschanzten wir uns an der Polytechnischen Universität zusammen mit Hunderten anderen.
Draußen begann der Kampf – Flaschen gegen Pfefferspray, Barrikaden gegen Wasserfontänen. Wir standen auf den Dächern, in den Gängen, sahen in Gesichter, die zu jung waren, um so viel zu fühlen. Angst. Wut. Ohnmacht. Es waren keine Ideale mehr, die uns hielten, sondern die Bewegung, die nicht aufhören durfte.
Zwölf Tage lang spielten wir Katz und Maus mit der Polizei. Sie hatten Waffen, wir hatten Flaschen. Manche flohen, manche wurden erwischt. Andere blieben. Am dreizehnten Tag war nichts mehr übrig. Keine Barrikaden, keine Flaschen, nur wir – müde, ausgehöhlt, stumm. Mei-Yin war krank. Fieber brannte in ihrem Körper, doch sie wollte nicht aufgeben. Ich hielt sie in meinen Armen, als wäre das alles, was ich noch tun konnte.
Als die Polizei die Universität stürmte, war die Welt rot. Der Boden, die Wände, die Luft. Wir rannten. Mei-Yin stürzte. Ein dumpfes Krachen, ein Gummigeschoss, das seinen Weg fand.
Für einen Augenblick war die Zeit eingefroren, als hätte die Welt den Atem angehalten. Ihre Augen suchten die meinen, weit aufgerissen, voller Schmerz, voller Fragen. Ich wollte sie greifen, festhalten, doch die Masse riss mich fort, eine gnadenlose Flut aus Panik, Schreien, Tränen.
Ich sah, wie die Polizei sie mitnahm. Ihren leblosen Körper.
Ich schrie, doch meine Stimme verlor sich im Chaos.
Die Zeit danach war ein einziges Warten, ein Regen, der nicht enden wollte.
Wochen. Monate. Ich suchte sie in Gesichtern, in Polizeistationen, in Geschichten, die andere erzählten. Der Regen fiel, als ihr Vater mir sagte, sie sei wegen Randale und Vandalismus angeklagt worden. Ich hörte die Worte, aber sie bedeuteten nichts. Alles, was zählte, war, dass sie fort war.
Wahrscheinlich für Jahre, weil dies die höchste Strafe war, die Protestierende bekommen konnten.
Die Monate wurden zu einer Zeit ohne Bedeutung. Tag, Nacht, Glück – alles löste sich in Regen auf. Die „Artisten“ kämpften weiter, unsere Eltern auch, doch mit dem nationalen Sicherheitsgesetz am 1. Juli 2020 war alles verloren.
Die Demokratie, sie war gestorben. Proteste wurden zu Verbrechen erklärt. Journalisten wurden gejagt. Freunde verschwanden hinter Gittern. Auch ich wurde gesucht. Meine Eltern wussten, dass es vorbei war.
Tage später am Flughafen las ich die letzte Ausgabe der Apple Daily. „Wenn ein Apfel unter der Erde vergraben wird, werden seine Samen zu einem Baum, der größere und schönere Äpfel trägt.“ Es waren Worte, die größer waren als alles, was ich fühlen konnte.
Der Zug nach Oxford traf ein, Kwan schloss seinen Regenschirm und trat hinein. Tropfen glitten über glänzende Fliesen. Es waren keine Tropfen, die etwas wuschen, sondern solche, die die Melancholie noch schwerer machten. Stratford Station, ein Ort, zwischen Exil und Anfang, an dem Geschichten sich kreuzten, aufbrachen oder in der Eile verloren gingen.
„Sei wie Wasser“, hatte Mei-Yin damals gesagt. Sie hatte immer Antworten gehabt, er war nur eine Frage gewesen. Vielleicht war das der Grund, warum er sie liebte. Vielleicht auch der Grund, warum Kwan sie und seine Heimat verlor.