Vornamen

von Manuel Knauft

Stehst du mir gegenüber, dann siehst du geradewegs an meinem Gesicht vorbei. Zu sehr würde es durch das firm von dir gezimmerte Bildnis fließen, das du erschaffen hast. Es würde deine Vorstellung von mir erodieren, dreckig tropfen wie meine Spülmaschine, die ich immer noch nicht repariert habe. Es würde dich daran erinnern, dass ich Colagläser von McDonalds auf meinem Sideboard aneinanderreihe. Sähest du mein Gesicht, vielleicht würde dir einfallen, dass auch mein Vorderlicht am Fahrrad neue Batterien braucht.

Darum siehst du lieber meine Uniform. Die ist schwarz, so schwarz, wie auch meine Seele sein muss. Deshalb kannst du brüllen.

Ich mache es dir einfach: Ich darf nicht antworten, dir nicht in Widerrede gegenübertreten. Wie ein Warentrenner auf dem Kassenband folge ich dem Fluss, stehe stabil und aufrecht. Ich trenne dich von den Gegendemonstranten in meinem Rücken, bin die Burgmauer, an der deine Meinung und deiner Meinung nach auch Flaschen zerschellen dürfen. Burgmauern haben versteinerte Mienen.

Heute bist du laut. Ich frage mich, ob du gern auch leise bist, ob du stille Worte flüsterst und ob dir an manchen Tagen auch ein Schweigen reicht. Dein Gesicht sehe ich gut; vermummen darfst du dich ja nicht.

Die Sonne brennt erbarmungslos, heizt die Gemüter an. Vor dir verschmelzen meine Kollegen und ich zu einer sich auftürmenden Welle. Die Brandung zischt; Gischt steigt auf. Deine Freunde und du, ihr schnattert wie die Möwen. Ich bin wieder Wasserwachtler, stehe mit Sonnenbrille am Strand und warne vor der Strömung: „Zurück! Zurück!“ Der Mann zu meiner Rechten und der zu meiner Linken erinnern mich an die breiten Stämme eines Kais, unbeweglich, aber abgerieben, ausgehöhlt vom Salz, das korrosiv in der Luft liegt. „Scheiß Bulle!“, wogt heran, zerschellt an meinem Schutzhelm. Ich werde müde.

Immer häufiger frage ich mich, ob es richtig ist, dir ein Schild zu sein, wo du doch ein Schwert in mir sehen willst. Warum muss ich verteidigen, was mich nicht verteidigt? Schützen, was mir gegenüber keine Gnade kennt? Mein Eid ist mein Boden, auf dem ich stehe, aber du rüttelst an diesem Fundament. Du bist wie ein Pilz, der am Stamm des Baumes nagt, den er sein Heim nennt. Seine Heimat. Der ganze Wald ist krank.

Im Einsatz bin ich eine Nummer. HH 124259 für uns; 1312 für dich. Beim Anlegen der Ausrüstung werde ich zur Idee, gewinne an Kanten und Gestalt. Gleich einem religiösem Ritual stehe ich am Morgen mit nacktem Oberkörper vor dem Spiegel und halte den Rasierer in meinen Händen. Vorsichtig, methodisch setze ich die Klinge am Kinn an, dort, wo die Gasmaske mich schützen soll, damit ich dich schützen kann. Ich lasse mir Zeit; allzu schnell folgen Hemd, Hose, die Jacke, die eine Nummer zu groß ist, damit die Weste darunter passt. Wenn ich sie aus dem Spind nehme und anlege, habe ich das Gefühl, mich in ihr verlieren zu können. Ganz zum Schluss drücke ich das Klett mit der Kennzeichnung fest, lege meinen Vornamen ab.

 

„Alster 20 für Abschnittsleitung City, kommen.“

Meine Hand findet den Kippschalter. „Alster 20 hört, kommen.“

„Einsatz für Sie bei den Kollegen in Rot – randalierender Patient im Zelt am Südeingang, kommen.“

„So verstanden; sind auf dem Weg.“

Ich bedeute meinem Kollegen mit einem Nicken in Richtung Platanen an, mitzukommen. Wir setzen uns in Bewegung, sehen bald das vergilbte Zelt mit großem rotem Kreuz vor uns und treten ein. Eine blaue Weste mit Klemmbrett versucht vergeblich, überall gleichzeitig zu sein, dirigiert ein planloses Paar Hände in Richtung Materialkisten und winkt uns wortlos dankend in ein muffiges Separee. Bis auf einen stämmigen Mittsechziger mit zusammengesunkenen Schultern und Augenringen ist der Bereich verlassen. Zusammengeknüllte Rettungsdecken liegen achtlos auf dem Boden, daneben ein Verbandpäcken, rot durchtränkt und mit der ehemals sterilen Seite nach unten. Ich atme durch die Nase aus und greife zum Notizblock.

„…knapp so groß wie ich. Der hatte hier einen blutenden Cut an der Schläfe.“ Er tippt sich mit dem behandschuhten Zeigefinger an den Rand seiner Stirn. „Hat schon rumgemault, als meine Kollegen ihn hergebracht haben. Wollte nur ‚dieses dumme Klammerpflaster‘“  – seine Zeigefinger umrahmen die Worte als Gänsefüßchen – „und dann schnell wieder weg.“

„Haarfarbe und Statur?“

„So ein dunkles Blond. Schlank, bisschen schlaksig.“

Der Schriftzug auf seiner Einsatzjacke spannt über seiner schnell auf- und abgehenden Brust und löst sich an den Seiten auf. In ungewohnter Eintracht teilen wir unsere Müdigkeit wie einen unausgesprochenen Witz, der nur durch unser gemeinsames Erleben an Sinn gewinnt. Das dem Ehrenamt üblichen Streben nach Aufregung und Gefahr teilt er hingegen nicht.

Seltsam deplatziert komme ich mir vor in meiner Ausrüstung. Wir sind wie ein Hammer, als wir die Personenbeschreibung und die Gefährdungsbeurteilung über Funk weitergeben. Bevor ich mich zum Gehen wende, spüre ich seine Hand durch die Uniform auf meiner Schulter.

„Danke, dass ihr da seid. Ich meine…“, setzt er an, zögert aber, weiterzureden. Er missversteht mein Schweigen als Aufforderung.

„…ich komme von drüben. Wir hatten das nicht. Die Chaoten sind halt scheiße, aber… Ja. Sind halt scheiße.“ Die letzte Pause wirkt geladen. Vermutlich sieht er, wie sich im Licht der Halogenscheinwerfer seine Gesichtszüge in meinem Visier spiegeln. „Ich weiß, ich weiß“, murmle ich und nicke ihm zu.

Wie Puzzlestücke setzen wir uns als Steine wieder in die Mauer ein. Mein Nebenmann ist ausgetauscht worden, schubst zurück. Die Sonne senkt sich hinter den Häuserdächern herab und taucht den Abend in Pastell und leuchtendes Orange.

Ich besehe dich genauer. Du bist des Brüllens müde geworden, drängst voran und schlägst. Du trägst Brille, eine dreckige Arbeitsjacke und wahrscheinlich auch einen Vornamen.