In den Tiefen des Ozeans galt unter den Fischen das Gesetz der Haie. Als die größten und stärksten unter ihnen war ihr Herrschaftsanspruch niemals angefochten worden.
An einem Abend im Riff, gesättigt nach einer guten Jagd, trafen sich die Haie, um über die Regierungsgeschäfte zu sprechen. Sie hatten allerlei Anliegen der kleineren Fische zu behandeln und entschieden meist aus einer Laune heraus, mal für den einen, mal für den anderen. Es wurde spät an diesem Abend und die Haie mit der Zeit immer unproduktiver. Irgendwann sprachen sie nur noch über ihre eigene Herrlichkeit.
»Wir sind so mächtig«, dröhnte irgendwann der Weiße Hai, »Wenn wir es verlangen, lösen die Heringe sogar ihre Schwärme auf.«
Die anderen Haie lachten, nur der Hammerhai bedachte den Weißen Hai mit einem skeptischen Blick.
»Was zweifelst du?«, fragte der um ein vielfaches größere Weiße Hai den Hammerhai.
»Ich spreche den Heringen mehr Verstand zu, als du es tust«, kritisierte der Hammerhai. »Sie mögen gehorsam sein, doch auch sie würden ihre Freiheit, sich zu versammeln, niemals hergeben. Ebenso wenig, wie wir es tun würden.«
»Sie würden«, beharrte der Weiße Hai trotzig.
Da schüttelte auch der Tigerhai seinen Kopf: »Sie würden. Doch nicht einfach so. Der Grund wäre entscheidend.«
»Der Grund?«, fragte der Hammerhai noch immer skeptisch.
»Der Grund. Die Erklärung. Der Vorwand«, fuhr der Tigerhai fort.
»Eine Legitimation also«, dachte der Hammerhai laut nach und die Möglichkeit erschien ihm ein wenig realistischer. Ein Vorwand könnte die Heringe das Hinterfragen vergessen lassen. Doch könnte eine fiktive Erklärung tatsächlich plausibel genug sein? »Welche soll das sein?«
»Oh, es gibt viele gute Gründe. Sie müssen nur glauben, wir würden sie beschützen wollen. So wie sie es immer glauben. Je mehr Angst sie haben, desto bereitwilliger werden sie ihre Freiheit opfern.«
Die anderen Haie waren von den Ausführungen des Tigerhais regelrecht verzückt. Sofort begannen sie nach Vorwänden zu suchen. Gefahren zu erfinden. Nichtigkeiten zu dramatisieren.
»Wir sollten es probieren. Testen, ob der Tigerhai recht hat«, schlug der Hammerhai vor. Ob er an den Erfolg seiner Artgenossen oder an den Verstand der anderen Fische glaubte, blieb sein Geheimnis.
»Und was wollen wir ihnen erzählen?« fragte ein junger Heringshai.
Augenblicklich brach ein Tumult los und die Haie riefen ihre Ideen wild durcheinander. Jeder hielt seine für die beste und wollte ihre Wirkung beweisen.
»Dass die Fischer sie so leichter fangen können. Das ist bewiesen! Das werden sie glauben!«
»Dass die Schwertwale sie so leichter fangen können!«
»Dass sich Krankheiten im Schwarm viel leichter verbreiten!«
»Dass ihr Rogen an Fruchtbarkeit verliert, wenn sie im Schwarm schwimmen!«
Während zunächst noch Wahrheit an den Lügen war, wurden es bald reine Lügen und dann immer größere Lügen. Doch je absurder die Geschichte wurde, desto mehr schmückten die Haie sie aus und umso glaubhafter erschien sie am Ende.
So gingen sie schließlich auseinander. Die Lüge verbreitete sich rasch unter den anderen Fischen und zur Verwunderung des Hammerhais begannen sich Heringe aus ihren Schwärmen zu lösen. Wer anfangs nicht an die Lüge glaubte, wurde bald so von den anderen bedrängt, dass er sich gezwungen fühlte, die Wahrheit im Märchen zu suchen. Und wer noch immer nicht glauben wollte, verlor seine Freiheit, sich zu versammeln, durch die Abkehr der anderen.