Hinter geschlossenen Türen

von Janine Rüefli

Gleichzeitig mit dem Klingeln an der Tür ertönte das Läuten der Zeitschaltuhr des Backofens. „Sie sind daaa!“, meine Tochter sprang erfreut auf und rannte zur Tür. Ich nahm den Kuchen aus dem Ofen, bevor ich ihr folgte. Die ersten Gäste, meine Schwiegereltern, hatten bereits ihre Schuhe und Jacken ausgezogen, als ich in die Garderobe trat. „Hallo, schön, dass ihr da seid“, ich lächelte, und meine Worte waren wie mein Lächeln ausnahmsweise ehrlich gemeint. Die letzten Tage hatte ich so viel gelogen, dass es sich beinahe fremd anfühlte ehrlich zu sein. „Tobias, kommst du?“, rief ich die Treppe hinauf. Gleich, muss noch schnell die Haare föhnen“, bekam ich als Antwort zurück. Ich verdrehte die Augen, wie immer war er spät dran. „Dann kommt doch ins Wohnzimmer. Kann ich euch etwas zu trinken anbieten?“, fragte ich Tobias‘ Eltern, wie immer die perfekte Gastgeberin, als wäre dieser Besuch nichts Besonderes, als wäre alles ganz normal.

Meine Tochter beschäftigte ihre Großeltern sofort, nachdem sie sich ins Wohnzimmer gesetzt hatten, und so hatte ich einen kurzen Moment der Ruhe, wahrscheinlich den letzten für längere Zeit. Viel zu schnell war der Moment vorbei, es klingelte. Ich eilte zur Tür und öffnete für meinen Bruder und seine Freundin Lina. Ich begrüßte die beiden und begleitete sie ins Wohnzimmer. Nach und nach füllte sich unser Wohnzimmer mit Verwandten und Freunden. Bald kam auch Tobias ins Esszimmer und nickte mir flüchtig zu. Auch er begrüßte unsere Gäste und bald entwickelte sich ein lockeres Gespräch. Niemand hätte vermuten können, dass hier irgendwas anderes vor sich ging als die Geburtstagsfeier unserer Tochter. Meine Tochter erzählte gerade allen, die es hören wollten (und auch denen, die es eigentlich nicht interessierte, die aber aus Höflichkeit ebenfalls zuhörten), von ihrem Schultheaterstück und wie sie es unfair fand, dass Connie die Hauptrolle bekam, obwohl sie gar nicht schauspielern konnte, obwohl sie es doch viel besser konnte. Ich lachte gezwungen mit den anderen mit, obwohl ich genau wusste, warum sie die Hauptrolle sicher nicht spielen durfte und es hatte nichts mit ihren schauspielerischen Fähigkeiten zu tun. Im Gegenteil, sie war eine echt gute Schauspielerin, denn ich war mir sicher, dass ihr auch aufgefallen war, wie angespannt Tobias und ich die letzten Wochen waren und doch ließ sie sich nichts anmerken. Aber sie liebte die Aufmerksamkeit und begann schon mit der nächsten Geschichte, als Lina mich bat, ihr Glas aufzufüllen. Sie drückte es mir in die Hand und ich nahm es entgegen, zusammen mit dem Zettel, den sie darunter versteckt hatte. Ich füllte das Glas mit Apfelsaft und gab es ihr zurück. Dann entschuldigte ich mich schnell auf der Toilette. Ich schloss die Tür und faltete den Zettel auseinander.

‚Dienstag, 18 Uhr, H. freut sich auf einen Ausflug mit euch.‘

Ich drehte den Zettel um, aber das war alles, was darauf stand. Ich atmete erleichtert aus, als ich die gute Nachricht las, doch die Entspannung war nur von kurzer Dauer, als mir klar wurde, was das bedeutete. Ich verdrängte die Gedanken, kritzelte eine Kurze Antwort auf die Rückseite: ‚Wer hat die Eintritte?‘ Ich betätigte die Toilettenspülung und wusch mir mit klopfendem Herzen die Hände. Den Zettel faltete ich wieder zusammen und ging zurück ins Wohnzimmer. Ich wartete kurz, bevor ich zu Tobias herüber ging, und seine Hand nahm, wobei ich ihm auch unauffällig, denn Zettel übergab. Ich merkte, wie Tobias kurz verkrampfte, bevor er sich wieder entspannte und so tat, als wäre nichts passiert. Kurz darauf stand Tobias von seinem Stuhl auf, um die Schale mit den Nüssen aufzufüllen und ich wurde in ein Gespräch mit Arianne, meiner Schwester, und ihrem Mann verwickelt. Tobias kam zurück, etwas blasser als zuvor, aber er lächelte mir kurz zu, bevor er sich seinem Vater Jürg zuwandte, wahrscheinlich um den Zettel so schnell wie möglich loszuwerden.

Wir hatten keine Zeit, gemeinsam zu besprechen, was auf dem Zettel stand. Und auch wenn es sich ergeben hätte, wäre es uns wohl zu riskant gewesen. Wir wussten nicht, ob unser Haus nicht verwanzt war, wir konnten nicht mehr offen sprechen. Deshalb auch die Geburtstagsfeier. Es war riskant, so viele Leute einzuladen, aber wir waren uns einig, dass es eine gute Tarnung war. Es würde niemand wissen, wer unserer Gäste von unserem Plan wusste, und hoffentlich erwarteten sie auch nicht, dass wir es wagten, mit so vielen Leuten im Raum etwas zu planen. Hoffentlich.

Ein Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Vermutlich sah man mir die Panik an. Wir erwarteten keine Gäste mehr. „Ich geh mal nachsehen“, Tobias tauchte neben mir auf, drückte kurz meine Hand, lächelte mich gezwungen an und ging zur Tür. Ich wartete angespannt und als ich sah, mit wem Tobias zurückkam, verkrampfte sich alles in mir, aber ich setzte trotzdem ein Lächeln auf.

„Hallo Mama“, sagte ich und ging auf sie zu, um sie zu begrüßen, „schön, dass ihr es doch geschafft habt.“ Sie und mein Vater betraten das Wohnzimmer und die Gespräche verstummten. Ich war nicht die Einzige, deren Lächeln plötzlich nicht mehr so entspannt wirkte. Es war ein offenes Geheimnis, dass meine Eltern mitverantwortlich für die Verhaftung der Müllers waren. Es war bekannt geworden, dass sie in ihrem Haus antikommunistische Versammlungen abgehalten hatten, und seitdem hatte man sie nicht mehr gesehen.

Die Angst, dass auch die Anwesenden dieser Versammlung dieses Schicksal erleiden könnten, ging um, man konnte es förmlich spüren. Aber es war auch eine Chance. Wenn wir unsere Sache gut machten, hätten wir ein Alibi. Meine Eltern würden bezeugen, dass wir ganz normal Geburtstag gefeiert haben und niemand in diesem Raum etwas mit unserer Flucht zu tun hätte.

Wir mussten den Zettel einfach weitergeben. Fast wie in der Schule, so dass die Lehrerin im Raum nichts mitbekam. Nur dass wir uns jetzt auf keinen Fall erwischen lassen durften. Meine Tochter sprang auf und umarmte meine Eltern. Nichtsahnend strahlte sie sie an und zog sie mit sich, um ihnen ihr neuestes Spielzeug zu zeigen, das sie heute Morgen von uns bekommen hatte. Es dauerte eine Weile, bis die Gespräche wieder in Gang kamen, aber irgendwann wirkte es fast wieder so locker wie zuvor.  Es gab ja auch viele, die gar nicht wussten, was hier vor sich ging. Ich wünschte ich wäre Teil von den unwissenden, während ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen.

Irgendwann gab es Kuchen und wir sangen ein Geburtstagsständchen. Dabei sah ich, wie Lina Arianne etwas zusteckte. Ich war mir sicher, dass es ein Zettel war. Mein Herz klopfte, ich schaute mich um, meine Eltern saßen zum Glück auf der gleichen Seite des Tisches und schienen nichts bemerkt zu haben, aber ich konnte die Angst nicht abschütteln. Wenn sie etwas bemerkten, wenn jemand etwas bemerkte, wäre unsere Tarnung aufgeflogen. Diese Geburtstagsfeier würde nicht mehr als das gelten, sondern als verfassungsfeindliche Versammlung, und dann würden nicht nur wir, die wir mit den Müllers Kontakt hatten, sondern alle Anwesenden auf der Beobachtungsliste der Stasi landen. Dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los und ich konnte mich nicht wirklich entspannen, obwohl ich mir alle Mühe gab, mich ganz in das Gespräch mit meinem Bruder zu vertiefen.

Auch nachdem der Kuchen gegessen war, hatte ich mich nicht wirklich beruhigt. Da half es auch nicht, dass Hans, der beste Kollege von Tobias und Patenonkel unserer Tochter, mir beim Abräumen der Teller noch einen Zettel zusteckte. Er stellte es geschickt an und übergab in mir eigeklemmt zwischen zwei leeren Tellern. Ich ging zum Geschirrspüler, um die Teller abzuräumen, und las dabei unauffällig den Zettel, der eine einfache Antwort auf meine Frage enthielt:

‚A. wird sie morgen abgeben.’

Das war alles, und ich konnte nur raten, was genau das bedeutete, aber es war eine gute Nachricht. Dann war also alles vorbereitet, was wir brauchten. Eigentlich sollte mich das beruhigen, aber es machte mich nur noch nervöser.

Ich übergab den Zettel wieder Tobias und hatte dann zum Glück den Rest des Abends nichts mehr mit Zetteln zu tun. Ich wusste auch nicht, bei wem er in der Zwischenzeit war, aber das war ein gutes Zeichen, denn wenn es mir nicht auffiel, würde es den Unwissenden auch nicht auffallen. Das beruhigte mich ein wenig. Aber nicht wirklich, meine Nerven lagen blank.

Meine Tochter packte die Geschenke aus, bedankte sich brav bei allen. Aber dann war sie nur noch mit ihren Geschenken beschäftigt. Es machte mich traurig, sie so glücklich mit ihren Spielsachen zu sehen, denn ich wusste, dass sie sie bald zurücklassen musste. Sie war zu jung, um zu verstehen, warum wir das taten, sie würde nicht glücklich sein, zumindest am Anfang, aber wenn unsere Flucht erfolgreich war, würde sie es uns eines Tages danken. Irgendwann… hoffentlich…

Langsam wurde es spät und unsere Gäste verabschiedeten sich. Der Abschied fiel mir schwer, denn ich wusste, dass ich die meisten von ihnen nie wieder sehen würde. Noch schlimmer war, dass die meisten Menschen, die mir wichtig waren, nichts davon wussten, dass es unser letztes Treffen war. Auch unsere Tochter war völlig ahnungslos. Sie verabschiedete sich zwar von den Gästen, wie es sich gehört, aber in Gedanken war sie noch bei ihrem Spielzeug. Ich wünschte, sie könnte sich besser von ihrer Familie verabschieden. Ich wünschte, sie wüsste, dass dieser Abschied ein Abschied für immer war.

Natürlich verstand ich, warum wir es ihr und den anderen Gästen nicht sagen konnten, aber ich hätte viel für einen richtigen Abschied gegeben. Vor allem die Umarmung meines Bruders zum Abschied hat mir das Herz gebrochen. Er hatte keine Ahnung. Lina sah auch nicht sehr glücklich aus und drückte mich auch. Auch der Abschied von meinen Schwiegereltern war hart. Ich sah, wie Jürg sich eine Träne aus den Augen wischte, als er seinen Sohn umarmte. Tobias Mutter ahnte nichts, schien sich über die feste Umarmung zu freuen, während Tobias sich zusammenreißen musste, um nicht zu weinen. Der Abschied von Hans war nicht so schwer. Er hat Verwandte im Westen und hat die Flucht organisiert. Wir werden zusammen gehen und seine Familie wird uns helfen, ein neues Leben zu beginnen. Arianne wirkte beim Abschied genauso angespannt wie ich. Zum Glück war auch das nicht unsere letzte Begegnung. Sie wird uns morgen die gefälschten Dokumente bringen, die wir für unsere Flucht brauchen, aber trotzdem spürten wir beide die Schwere des Augenblicks. Ihr Ehemann hingegen war ahnungslos, was aber gut so war. Es sollten so wenig Leute wie möglich davon wissen, denn je weniger über unsere Flucht wussten, desto weniger Probleme hätten ein Problem, falls wir auffliegen würden. Ausserdem was die Chance, dass uns jemand verrät, so auch viel geringer.

Die Letzten, die gingen, waren meine Eltern. Auch sie habe ich fest umarmt. Denn obwohl mein Verhältnis zu ihnen schon lange angespannt war, waren sie immer noch meine Familie. Einen Moment lang war ich sogar richtig traurig… bis meine Mutter den Mund aufmachte und sagte: „Passt auf euch auf. Wir haben uns Sorgen gemacht. Du weißt schon… wegen der Müllers. Ich nickte: „Wir waren auch sehr betroffen. Wer hätte ahnen können…“ Ich ließ den Satz in der Luft hängen, ich hatte nicht die Energie ihn zu Ende zu sprechen. „Passt auf jeden Fall auf, mit wem ihr gesehen werdet“, sagt Papa, und ich verkrampfe mich noch ein bisschen mehr. Wenn sie nur wüssten. „Keine Angst. Wir haben nichts zu verbergen“, sprang mir Tobias zu Hilfe, „aber wir werden in Zukunft besser darauf achten, wer die Menschen wirklich sind, die wir unsere Freunde nennen.“ Meine Eltern nickten zufrieden und verabschiedeten sich noch von unserer Tochter, bevor auch sie unser Haus verließen.

„Auf Wiedersehen“, rief ich ihnen hinterher, bevor Tobias die Tür hinter ihnen schloss. Eine letzte Lüge an diesem Tag der Lügen. Eine letzte Lüge, bevor wir dieses Leben voller Angst, Unterdrückung, Spionage und Heimlichtuerei hinter uns lassen werden.