Märchenhafte Untersuchungen

von Albrecht Gralle

Cassel 1824.

Die Öllampe zischte und warf den Schatten eines Garderobenständers an die Wand. Wie ein dürrer, aufrechter König mit einer bizarren Krone stand der Schatten unbeweglich im Raum der Apotheke Zum Adler und schien der Stimme eines jungen Mädchens zu lauschen: Fräulein Dorothea Wild. Es roch nach Wein und Schmalzbroten.

Vier Männer und sechs Frauen saßen auf gepolsterten Stühlen, kleine gusseiserne Tischchen neben sich, und sahen in die Richtung des Mädchens, blickten aber durch sie hindurch. Hinter ihren Stirnen entstanden beim Zuhören Bilder: Ein kleiner, frecher Kater in viel zu großen Stiefeln und einem Filzhut mit Feder stolzierte gerade an einem großen Kornfeld vorbei und redete mit den Landarbeitern, als sei das so üblich: „‚Wem ist das Korn, ihr Leute?‘

‚Dem großen Zauberer‘!

Die Brüder Grimm hatten das Märchen vom gestiefelten Kater in ihre Sammlung aufgenommen, obwohl es nicht so richtig zu der behaglichen Stimmung der anderen Märchen passte, es klang eher wie ein Schelmenstück, aber den Leuten in Cassel gefiel es. Man musste ja nicht extra betonen, dass es ursprünglich aus Frankreich stammte: Chat botté.

Zwischendurch lief eine leise Lachwelle durch die Zuhörerschaft bei der Stelle, als der Kater die Maus fraß, die vorher ein großer Zauberer gewesen war. Sich vorzustellen, dass ein mächtiger Zauberer zu einer Maus wurde, herrlich! Schon vor zehn Jahren hätte man Napoleon in eine Maus verwandeln sollen! Jedenfalls war er ein schlaues Kerlchen, dieser Kater!

Das Mädchen, dessen lange Zöpfe zu einem Haarnest hochgesteckt waren, hob den Kopf, strich ihre Korkenzieherlocken zurück, legte das Buch auf den Tisch und sagte: „Und nun will ich Ihnen noch ein Märchen erzählen, das auch in die Sammlung gekommen ist. Ich habe es selbst aus meiner Familie mitgebracht. Meine Vorfahren waren nämlich Hugenotten und wussten viele Geschichten. Ich liebe diese Geschichte ganz besonders, denn sie handelt von einem Königskind, das im Wald aufwachsen soll. Ein bösartiger Zwerg hat es sich durch listige Züge geholt. Und ich denke, eigentlich würde es dem Kind ganz guttun, im Wald bei den Tieren aufzuwachsen, aber die Mutter ist natürlich sehr traurig, weil sie es zurückhaben will, und das geht nur, wenn sie den Namen dieses kleinen Koboldes herausfindet. Aber hören Sie selbst, es ist ein zu komischer Name! Diesmal lese ich nicht, sondern trage es vor:

Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter und war ganz besonders stolz auf sie. Nun traf es sich, dass er mit dem König zu sprechen kam und ihm sagte: ‚Ich habe eine Tochter, die weiß die Kunst, Stroh in Gold zu verwandeln …‘“

Jemand klopfte an die Tür und riss die Gesellschaft aus ihrer Ruhe. Der Müller mitsamt seiner schönen Tochter verschwanden.

Herr Hundertmarck, der Apotheker, lang und dürr, entfaltete sich, stand seufzend auf und ging zur Tür. Schon an der Art, wie er ging, konnte jeder erkennen, dass er ungehalten war. Er drehte den Schlüssel herum und öffnete.

„Die Apotheke ist geschlossen um diese Zeit!“

„Ja, das weiß ich, Herr Hundertmarck“, sagte eine Männerstimme, „aber hier auf der Straße liegt ein toter Mann, und ich dachte, dass Sie vielleicht helfen könnten…“

„Einem Toten?“

„Vielleicht ist er doch noch nicht ganz tot …“

„Ich komme.“

Herr Hundertmarck drehte sich zu seinen Gästen um, die alles mitbekommen hatten, und hob hilflos die Schultern.

„Sie entschuldigen mich.“

Einer der Stühle schurrte zur Seite und der Mann, der darauf gesessen hatte, erhob sich. „Vielleicht kann ich behilflich sein“, murmelte er, machte eine Verbeugung zu den Damen hin, lächelte kurz der Vorleserin zu. „Sie entschuldigen, Mademoiselle Wild“, und ging nach draußen. Die Tür stand noch halb offen.

Auf dem Trottoir, wie man den Gehsteig seit neuestem nannte, hatten sich ein paar Gestalten zusammengedrängt.

Der Zuhörer aus der Apotheke trat näher und sah nun, wie Herr Hundertmarck neben einem Mann kniete, der zusammengekrümmt auf dem Weg neben der Straße lag. Der Zylinder des Verunglückten lag im Dreck.

Hundertmarck richtete sich auf und sagte: „Ich fürchte, der Mann ist tatsächlich tot, jedenfalls fühle ich keinen Puls und das Atmen hat aufgehört.“

„Kann ich irgendetwas tun?“, fragte der hilfsbereite Mann.

„Jemanden müsste zur Gendarmerie gehen …“

„…Aber das könnte ich doch tun!“

„Ja, das wäre gut. Tun Sie das! Vielen Dank, Herr Hofstetter. Ich bringe den Toten inzwischen in den Schuppen nebenan.“

 

Balthasar Hofstetter wusste zum Glück, dass die Gendarmerie in der Weserstraße lag und hastete durch die halb dunklen Gassen der Altstadt, die nur von dem trüben Schein der neuen Rübenöllampen erhellt waren. Ihr Licht kämpfte sich durch den Nebel, der von der Fulda aufstieg und sich in der Stadt verteilte. Endlich sah Balthasar einen gelben, verwaschenen Fleck: das Fenster der Polizeiwache.

Zweimal musste er klingeln, bevor er ein Geräusch hörte. Der Riegel wurde zur Seite geschoben und ein Polizeidiener mit Zopfperücke stand vor ihm.

„Guten Abend“, sagte Balthasar. „Ist der Herr Hauptwachtmeister zu sprechen?“

Bevor der Polizeidiener etwas sagen konnte, hörte Balthasar von drinnen: „Lass ihn rein, Bergmann und mach die Tür zu, dieser feuchte Nebel dringt mir durch Mark und Bein.“

„Jawohl, Herr Hauptwachtmeister Grote!“

Als Balthasar die geheizte Stube betrat, sah er, wie ein älterer Mann, der besagte Hauptwachtmeister, hin- und herging, mit einem beschriebenen Blatt in der rechten Hand. Polizeidiener Bergmann setzte sich und griff nach einer Feder, die auf einem Lederlappen gelegen hatte.

Grote blickte kurz auf und sagte zu Balthasar: „Setzen Sie sich, ich bin gleich soweit. Also, wo waren wir, Bergmann?“

„Mit dem Pfeil, dem Bogen …“, sagte der Polizeidiener.

„Richtig. Da wollen wir doch mal sehen, was der Herr Schiller so gedichtet hat. Er war ja bekannt als Aufrührer und Revolutionär, der mit den Fürsten nicht immer gut auskam. Was hältst du von folgender Zeile: Wie im Reich der Lüfte König ist der Weih – durch Gebirg‘ und Klüfte herrscht der Schütze frei. Ihm gehört das Weite, was sein Pfeil erreicht, das ist seine Beute, was da kreucht und fleucht …“

Der Schreiber kratzte sich am Kopf und meinte: „Man könnte es als eine Kritik gegenüber dem Kurfürsten auffassen, denn ein einfacher Schütze hat nicht das Recht, überall zu jagen, was da kreucht und fleucht. Zumindest nicht in den Wäldern, die der Krone gehören.“

„Richtig!“, nickte Grote. „Das Lied kommt auf den Index, auch wenn es von Monsieur Schiller ist. Machen Sie eine Notiz!“ Er legte das Blatt weg und wandte sich an Balthasar: „Wir sind hier bei einer wirklich großen Sache. Die scheinbar harmlosen Lieder des Volkes haben es in sich.“ Er griff nach einem anderen Blatt. „Oder hier: Winter ade, scheiden tut weh. Aber dein Scheiden macht, dass mir das Herze lacht …

Klingt zunächst harmlos, aber wenn man bedenkt, dass Kurfürst Friedrich I. die Schweden in einem spektakulären Winterfeldzug besiegt hat und seitdem der Winterkönig hieß, klingt das Lied ganz anders, da es wahrscheinlich die Franzosen gedichtet haben, die mit Schweden paktiert hatten. Es ist eine Kritik an einem deutschen Kurfürsten, raffiniert verkleidet in ein harmloses Jahreszeitenlied.“

Er wedelte mit einem anderen Blatt herum: „Und das hier scheint mir besonders gefährlich zu sein: Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger sie schießen. Es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei. – Nun, Bergmann?“

Bergmann blickte kurz zur Decke und sagte dann: „Das klingt … wie eine Ermutigung, nach außen zu buckeln, aber sich den Rest zu denken.“

Grote fuhr fort: „Richtig! Eine versteckte Aufforderung zur Heuchelei gegenüber unserem Kurfürsten.“ Er nahm ein anderes Blatt zur Hand.

„Oder hier noch eines von diesen verdächtigen Liedern: Es, es, es und es, es ist ein harter Schluß. Weil, weil, weil und weil, weil ich aus Frankfurt muß… Da fragt man sich doch“, sagte Grote, „warum der Sänger so dringend Frankfurt verlassen muss. Hat er etwas auf dem Kerbholz? Hat er eine nicht genehmigte Straßenversammlung organisiert oder Flugblätter gegen die Obrigkeit verteilt?“ Er nickte bestätigend mit dem Kopf: „Ja, wir haben da etwas ganz Großes aufgetan. Er blieb stehen und sah Balthasar an. „Und was wollen Sie?“

Balthasar erhob sich. „Herr Hauptwachtmeister Grote, ich wollte auf keinen Fall Ihre wertvollen Ausführungen stören, aber ich muss einen Toten melden, der vor der Apotheke Zum Adler auf dem Trottoir gelegen hat. Ungeklärte Todesursache.“

Grotes Stirn schlug Furchen und verschob seine Perücke. Er nahm sie ab, kratzte sich auf seinem fast kahlen Schädel und setzte sie wieder auf.

„Das ist alles?“, fragte er.

„Jawohl.“

„Gut, Sie können gehen. Bonsoir.“

Balthasar blieb stehen.

Grote sah ihn scharf an. „Ist noch etwas?“

„Ja“, begann Balthasar. „Ich könnte vielleicht bei der Ermittlung dieses Todesfalls helfen, denn es könnte doch sein, dass es ein Mord ist. Mein sehnlichster Wunsch ist es, selbst einmal bei der Polizei zu arbeiten und ich wollte fragen, welche Ausbildung…“

Grotes Augenbrauen schoben sich zusammen und sagte: „Herr…?“

„Hofstetter.“

„Alors, Herr Hofstetter. Ich werde Ihnen kurz erzählen, was Sie wissen müssen: Erstens: Normalerweise nehmen wir nur Leute aus dem Militär in den Polizeidienst. Es gibt keine Polizeischule oder dergleichen. Waren Sie beim Militär?“

„Nein, ich bin Schustergeselle und habe…“

„Schustergeselle? Da würde ich doch sagen…“ Grote blickte zu seinem Gehilfen hinüber, zwinkerte mit einem Augen und fuhr fort: „Schuster, bleib bei deinem Leisten!“ Er lachte und hustete gleichzeitig, dann räusperte er sich und fuhr ernsthaft fort: „Bon. Das ist das eine. Zweitens: Was ist die Aufgabe eines Polizisten?“

„Nun … ahm, ich denke, Verbrecher zu verfolgen, Morde aufzu…“

„Das war eine rhetorische Frage, Hofstetter! Ich komme zu zweitens. Also: zweitens besteht die vordringliche Aufgabe der Polizei in Hessen darin, den Kurfürsten und den Adel, also die Obrigkeit zu beschützen, darauf zu achten, dass kein Aufruhr entsteht, dass es keine Zusammenrottung von undurchsichtigen Elementen auf der Straße gibt, dass keine Flugblätter gegen den Adel geschrieben und verteilt werden und vor allem keine gefährlichen Lieder in die Welt gesetzt werden, die den Kurfürsten und den Hof insgesamt beleidigen könnten. Das ist unsere Aufgabe. Wir sorgen für Ruhe im Land. Freiheit führt zwangsläufig zu Unruhe. Merken Sie sich das! Nebenher lösen wir den einen oder anderen Mord und klären Verbrechen auf. Wir sind aber hauptsächlich verantwortlich, dass hier – nun?“ Grote machte eine Pause und wartete.

Bergmann rief: „Ruhe!“

„Richtig! Es soll Ruhe herrschen und niemand soll auf revolutionäre und freiheitliche Gedanken kommen! Man weiß ja, wie es in Frankreich ausgegangen ist. Zum Schluss rollten die Köpfe.“

Er griff nach einem Buch, das auf seinem Schreibtisch lag und hielt es in die Höhe wie eine Trophäe. „Und hier, Herr Hofreiter, habe ich persönlich eine Verschwörung entdeckt, die … die noch Wellen schlagen wird. Kennen Sie das Buch?“

„Nun… ich kann es von hier aus nicht…“

„Es stammt aus Cassel, herausgegeben von unseren sogenannten hochgelehrten Herren Grimm mit dem harmlosen Titel Kinder- und Hausmärchen.“

„Ja, ja, das kenne ich. Vorhin…“

„Ich sage nur: Incroyable!, Nicht zu glauben, was hier alles steht. Da ist die Rede von einem Prinzen, also einem Mitglied des Adels, der in einen Frosch verwandelt wird. Das ist an sich schon eine Beleidigung. Wenn schon eine Verwandlung sein muss, dann bitteschön in einen Adler oder Löwen. Aber doch nicht in einen Frosch!“ Grotes Stimme schwoll immer mehr an. „Da finde ich zum Beispiel die Geschichte von einer Prinzessin, durch die der ganze Hofstaat einschläft, nur weil sie sich in den Finger gestochen hat. Man stelle sich das einmal vor: Ein Land, in dem die Regierung jahrelang schläft! Aber es kommt noch schlimmer: Da wird von einem König Blaubart erzählt, der ein heimlicher Mörder ist. Und nun denken Sie mal nach. Was trägt unser Kurfürst im Gesicht? Richtig! Einen dunklen Vollbart. Man müsste …“

Bergmann hob seine Hand: „Ja, was ist?“

„Ich gebe zu bedenken, Herr Hauptwachtmeister, dass in der zweiten Auflage der Grimm‘schen Märchen der Blaubart nicht mehr auftaucht.“

„Aha, merci. Gute Arbeit!“

„Oder“, fuhr Grote fort, „eine einfache Müllerstochter unterstützt das Königshaus, indem sie angeblich Stroh zu Gold spinnt. Hier werden alle Unterschiede verwischt. Das kann nur in einer Katastrophe enden!“

Grote warf das gefährliche Buch auf den Schreibtisch, als sei es ansteckend.

„Jetzt wissen Sie Bescheid, Herr Hofreiter!“

„… Pardon, Hofstetter, Herr Hauptwachtmeister.“

„Von mir aus auch Hofstetter.“

„Aber Herr Hauptwachtmeister, es gab doch in der französischen Zeit auch einige Verbesserungen, Vereinfachungen in der Bürokratie, Handwerker konnten …“

„Nichts da“, unterbrach ihn Grote. „Wir bleiben bei unserem System, da weiß man, was man hat. Gehen Sie zum Militär, lernen Sie mit dem Degen, dem Gewehr und einer Pistole umzugehen, lernen sie reiten und die Pferde zu verstehen. Wer Pferde versteht, versteht auch Menschen. Lernen Sie Disziplin, dann kommen Sie wieder und sorgen Sie dafür, dass in Hessen wieder Ruhe einkehrt, nachdem wir endlich Bonaparte losgeworden sind. Von der angeblichen Freiheit haben wir genug gehabt. Die Bevölkerung muss gedeckelt werden und die Obrigkeit braucht unseren Schutz. Wenn ein Land seinen Bürgern zu viel Freiheit lässt, geht es zugrunde. Bonsoir, Monsieur!“

Balthasar Hofstetter wollte schon gehen, da fiel ihm noch etwas ein und er fragte zögernd: „Und der tote Mann?“

„Der wird uns nicht davonlaufen. Wir kommen morgen mal vorbei.“

Hofstetter öffnete die Tür und hörte im Hintergrund Grotes Stimme: „Oder hier: Innsbruck, ich muss dich lassen. Unwillkürlich frage ich mich: Warum? Hat der Sänger vielleicht zu einer verbotenen Straßenversammlung aufgerufen und das Volk aufgehetzt, die Obrigkeit beleidigt? Hat er  …“

Balthasar schloss die Tür.

                                                                               

 

Literatur

Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Hrsg. von Heinz Rölleke, Reclam, Stuttgart 1980.

Anne Diekmann, Hrsg. Das große Liederbuch, Diogenes, Zürich 1975

Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volkstum. Leipzig 1817, XV.

Steffen Martus: Die Brüder Grimm, eine Biographie. Rowohlt, Hamburg 2013

Bernd Pachnicke, Hrsg. Deutsche Volkslieder, Verlag Neue Musik, Berlin 1978