Ein alter Mann setzte sich wie jeden Morgen, auf einen komfortablen Stuhl, auf seinen Balkon. Die Wohnung, welche seiner Familie seit vielen Generationen gehörte, befand sich im Herzen der Stadt, und er hatte somit den perfekten Blick auf den Marktplatz. Beim Frühstück, beobachtete er alles, was unten so vor sich ging. Es unterschied sich kaum von Tag zu Tag. Immer die selben Routinen, fast immer die selben Menschen. Händler bauten ihre Stände auf, ein paar stritten sich um ihren Platz, die ersten Kunden schauten vorbei und schnappten sich was auf dem Weg zur Arbeit, und natürlich unübersehbar, unüberhörbar, die patrouillierenden Soldaten.
Ein Offizier führte wie immer die Kontrollen durch. Eine ältere und dem Anschein nach arme Frau, stand mit einem Korb Äpfel da und verkaufte sie an die Passanten. Der Offizier bemerkte die Frau und ging auf sie zu. „Ihre Lizenz!“ sagte er zur ihr. Sie geriet ins Schleudern, versuchte sich zu erklären und kramte in ihren Taschen, wo sich dem Anschein nach keine Lizenz befand. Keine Zeit zum Durchatmen gab ihr der Offizier jedoch. „Ihre Lizenz! Ich hab‘ nicht ewig Zeit!“ Unter dem Druck ließ die Frau den ganzen Korb mit Äpfeln fallen. „Oh Gott!“ sagte sie, als sie sich bückte um die Äpfel aufzusammeln. „In fünf Minuten haben sie das aufgeräumt und den Platz verlassen!“ befahl der Offizier und ging weiter.
Voller Verachtung schaute sich der alte Mann die Szene an. So etwas kam jeden Tag vor und jeder hatte sich nach all den Jahren daran gewöhnt, doch er nicht. Jeden Tag sah er zu und empfand die tiefste Verachtung. An diesem einen Tag zwang ihn der Sinn. Er konnte nicht mehr Zuseher sein, er konnte nicht mehr schweigen, er konnte nicht mehr so tun als ob.
Der Mann ließ sein Frühstück stehen und ging in seine Wohnung. Aus einem alten Schrank holte er eine große verstaubte Box, die er mit einem Schlüssel, welcher schon seit vielen Jahren um seinen Hals hing, öffnete. In der Box lag eine alte Fahne. Als der alte Mann ihre prächtigen Farben wieder sah, konnte er kaum noch was anderes erwarten, als das zu tun, was er schon lange tun wollte. Er holte die Fahne heraus, schüttelte den Staub weg und ging mit ihr zurück auf den Balkon, wo er sie, für alle gut ersichtlich anbringen wollte. Die Konsequenzen waren ihm bewusst, doch an diesem Tag egal. In seinem Alter fürchtete er sowieso nichts mehr.
Er brachte die Fahne an und stellte sich voller Stolz hin. Er blickte auf den Marktplatz, wo die Menschen seine Aktion sofort bemerkten. Eine Menge an Leuten versammelte sich vor seinem Haus, sie alle blickten erstaunt auf die Fahne. Der alte Mann sah in die Menge und fühlte etwas, was er schon lange nicht gefühlt hat. Freiheit. Endlich zeigte er die wahren Farben! Endlich zeigt er, wem seine Loyalität wirklich gilt und was er wirklich denkt. Die Frau mit den Äpfeln schaute ihm, von unten, direkt in die Augen und gab ein hoffungsvolles, zustimmendes Nicken.
Die Aktion ist selbstverständlich auch dem Offizier nicht entgangen. Mit entsetzen Augen sah er die Fahne an, dann richtete er seinen empörten Blick auf den alten Mann, der ihm nur zulächelte. Sofort pfiff der Offizier in seine Trillerpfeife und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das Haus. Die Soldaten folgten. Innerer Frieden überkam den alten Mann und er machte einen tiefen, genüsslichen Atemzug. Da hörte er’s an seiner Tür klopfen.