Juni

von Maja Goertz

Ich sehe heute gut aus. Ich habe mir die Wimpern getuscht und meine Augenringe abgedeckt. Ich trage die neue grüne Vintage-Bluse und Sneaker die mal weiß waren, so als hätte ich mir nicht extra für dich Mühe gegeben. Es ist ein warmer Juniabend, ich sehe heute gut aus und ich hoffe, dir fällt das auf.

Ich lag im Bett, mit offenen Fenstern und konnte nicht schlafen, als du mir geschrieben hast. Willst du vorbeikommen, hast du geschrieben, von deinem Balkon gibt es einen schönen Blick über die Häuser. Kein Hallo, kein, obwohl es schon spät ist und keinen Grund. Es ist Juni und vielleicht reicht das für einen Grund, also habe ich ja geschrieben und ja, ich bringe noch Wein mit. Ich habe mich am stillen Schlafzimmer meiner Eltern vorbeigeschlichen, einen Zettel auf den Küchentisch gelegt und darauf geschrieben, ich bin noch bei einem Freund, obwohl wir keine Freunde sind, obwohl wir uns nur zunicken, wenn wir uns sehen, obwohl du mich heute überrascht hast. Ich habe die Tür leise hinter mir ins Schloss gezogen, darin bin ich gut und heute auch darin, mehr wie der Juni zu sein, heute stoße ich mit dir an, heute schaue ich über die Stadt, der Sommer reicht dafür. Ich habe in einem Kiosk Rotwein für sechs Euro gekauft. Bis zu der Adresse, die du mir geschickt hast, war es nicht weit und als ich bei dir angekommen bin, habe dir eine Nachricht geschrieben, ich kenne deinen Nachnamen nicht und wusste nicht, wo ich klingeln muss.

Du stehst in der offenen Tür und aus der Wohnung klingen die Beatles, du grinst, umarmst mich, das ist das erste Mal, dass ich deinen Rücken unter meinen Händen fühle, für einen flüchtigen Moment, und dann gehst vor und ich folge dir mit einem Schritt Abstand. Durch die Küche, in der du die großen Weingläser aus einem Küchenschrank holst, über eine schmale Wendeltreppe, durch einen Raum mit Pflanzen und einer Matratze auf einem Lattenrost bis auf den Balkon.

Der Ausblick ist schön, sage ich, und du deutest auf die Stühle. Der Balkon ist klein, ich setzte mich auf den Stuhl gegenüber von der Tür und du dich auf den direkt davor. Ich kenne dich nicht gut, nur von einer Party, auf der du mit wenigen geredet hast, ein Oversize-Shirt getragen und einmal ein Bier für mich geöffnet. Die meisten waren zu betrunken und zu laut, aber du hast in der Ecke gestanden und deine Stimme war ruhig, gerade so, dass man dich trotz dem lauten Bass noch hören konnte. Du hast mich nach meiner Nummer gefragt, ich habe sie in dein Handy getippt und danach hast du mir einen Smily geschickt, Doppelpunkt und Klammer zu. Meine Freundinnen finden, dass du gut aussiehst und ich frage mich, warum du an diesem warmen Abend an mich gedacht hast, die Party war noch im April und da wurde die Dunkelheit noch kalt. Auf dem Tisch steht eine Whiskeyflasche mit einer Kerze darauf und ich zünde sie mit meinem Feuerzeug an. Du lächelst mich an, entkorkst den Wein und den Rest des Juniabends, die Zeit ohne Uhr, das Nichtkälter-Werden. Der Wein glitzert im Dunkeln in den Gläsern und ich trinke einen großen Schluck, denn es ist
ein warmer Juniabend, deine Augen sind so dunkel wie der Wein in den Gläsern und meine Hände ständig zittern. Du sagst, deine Mutter ist gerade nicht da, du bist meistens alleine, du magst das eigentlich ganz gerne, aber heute hast du an mich gedacht. Du erzählst, du stellst dir nie einen Wecker, du erzählst mir, dir ist deine Zeit wichtiger als Pünktlichkeit und dass du keinen Kontakt mehr zu deinem Vater hast, du lässt all das nach Freiheit klingen.

Der Rauch unserer Zigaretten zieht über uns in die Nacht und du schiebst mir die kleine Musikbox zu, du kannst gerne etwas aussuchen, sagst du und ich klicke die Playlist einer Freundin an. Ich lüge über meinen Geschmack, ich ziehe mir eine fremde Meinung über und dir fällt das nicht auf. Du schaust mir in die Augen und sagst: Du siehst heute gut aus und meine Wangen färben sich im Dunkel rot, ich klopfe die Asche von meiner Zigarette in dem Marmeladenglas auf dem Tisch ab und in meinem Bauch klopft ein leises Gefühl
von Freude, ein kleines Kribbeln, eine Berechtigung, die Bescheinigung, heute dein Grund zu sein, für die Lichterkette an der Tür und dafür, die Zigaretten an der Kerze anzuzünden.

Du musst bald wissen, wie es weitergeht, sagst du, aber du weißt nicht, wohin es gehen wird und so wie du mich ansiehst, denke ich, du würdest die Tage vielleicht verstehen, an denen meine Gedanken Stacheldraht haben, aber heute fragen wir uns nicht, wie es uns geht, wir reden nicht über die Tabletten auf meinem Nachttisch und nicht darüber, wie lange es her ist, dass deine Mutter einen ganzen Tag lang da war. Die Tabakkrümel verteilen sich über den Tisch, das Wachs der Kerze tropft auf die Flasche und die nächsten Zigaretten teilen wir uns, wir reißen die Filter auseinander, wir nehmen uns Zeit, um das Papier zu befeuchten. Der Korken und die losen Filter auf dem Tisch, das sind die Schichten zwischen uns und dann gibt es noch paar, die sich nicht so einfach aufstapeln lassen, aber trotzdem hörst du zu, wenn ich etwas sage, trotzdem hörst du zu, wie meine Stimme mutiger wird und ich von den Städten spreche, die ich lieber als unsere mag, aber der Ausblick ist wirklich gut, sage ich. Ich greife nach der Flasche Mate, die du geholt hast und dann greifst du nach meiner Hand.

Dein Hinterkopf mit den rausgewachsenen blonden Strähnen spiegelt sich in der Scheibe hinter dir, aber mehr von deiner Rückseite kenne ich noch nicht, ich weiß nicht, wann sich deine Grübchen zurückziehen, ich weiß nicht, ob deine Freunde schon wissen, wohin sie gehen werden und ob du als erster in eine neue Stadt ziehen wirst, um nicht zurückgelassen zu werden. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und suche nach einem Stern am Himmel, dann nimmst du mir den Filter aus dem Mund, streichst mit deinem Daumen über meine Lippe und ich spüre den einen Ring an deinem Mittelfinger an meiner Wange. Es ist spät, der Aschenbecher voll, die Gläser mit Fingerabdrücken übersäht, aber es ist Juni und im Sommer ist es egal, wenn es spät wird. Der Filter ist auf den Boden gefallen, zwischen unsere Füße. Ich sehe dir in die Augen, sie sind blau, so wie meine, aber heller. Du ziehst meinen Stuhl näher an dich heran, du durchreißt das dünne Papier zwischen uns und meine heiße Haut strahlt gegen deine kalten Finger. Du kommst näher und drückst deine Lippen auf meine, du reißt die Klebestreifen auf, du öffnest meinen Mund, du schiebst deine Zunge neben meine und ich mache dir Platz, ich rutsche nach vorne und lege die Hände in meinen Schoß.

Lass und reingehen, sagst du und ziehst mich zwischen den Stühlen durch die Tür, ich gehe rückwärts, du drückst mich auf die Matratze, der Lattenrost quietscht. Du streifst die grüne Bluse wie eine zweite Haut von meinem Körper, du beugst dich über mich, aber ohne Worte zu benutzen, die, die mir eben noch nah gekommen sind. Du hast den Abstand zwischen uns in den Aschenbecher geklopft und ich schlinge meine Beine um dein Becken, weil ich keinen Halt mehr finde und du kein Halt mehr hörst. Es ist eine Juninacht, und du hast mir eben noch zugehört, aber jetzt wird es immer später, es wird immer dunkler, es wird zu spät und ich verschwinde unter deiner Haut. Du greifst nach meinem Hals, ich will den Filter zurück, ich will den Korken zurück in die Flasche pressen. Eben waren wir noch zusammen still, aber jetzt bin nur noch ich es. Stöhn doch, sagst du und ich sage nicht: Du tust mir weh. Ich sage nicht: Wollen wir nicht einfach die Gläser nochmal auffüllen? Du füllst dich in mich, du stempelst dich auf meinen Mund, du stützt dich auf meinen Brustkorb und ich denke an die Herzdruckmassage, die ich im Erste Hilfe Kurs gelernt habe.
Du nimmst dir deine Freiheit, du nimmst mir meine Freiheit. Dein Gewissen ist still, dein Atem laut. Dein Gewicht drückt mich nach unten, dir ist deine Zeit wichtiger als ich es bin, ich will das Klingeln eines
Weckers. Du schlägst meine Seiten auf, ich blättere mich zu und stelle die Silben, die sich auf mein Herz und gegen deines legen wollen, in meinem Hinterkopf ab. Ich will den Juni aus meinem Kalender radieren und du brennst dich auf meine Haut. Dein Ring drückt gegen meine Oberschenkel und die Vorhänge, die eben noch in meinem Zimmer im Wind geweht haben, die Vorhänge, die extra blickdicht sind, ziehen sich vor meine Augen. Ich werde der Grund, du machst mich zum Abgrund und der Rotwein auf meinen Lippen ist die letzte Farbe in meinem Gesicht. Ich will etwas sagen, ich will an dein Gewissen appellieren, ich will SXTN zitieren, aber ich du hast mich still gemacht. Du hast meine Freiheit und dein Gewissen zusammengeknüllt und nichts mehr davon ist übrig.

Die Balkontür ist offen, aber es wehen keine Geräusche mehr zu uns. Schau mal, man kann von hier den Himmel sehen, sagst du und ich nicke nicht mehr. Auf dem Weg liegt das Feuerzeug, was mir aus der Tasche gefallen ist, meine dreckigen Schuhe und die grüne Bluse. Ich fühle mich schmutzig, ich fühle mich Second Hand. Die Haare an meinen Armen stellen sich auf, der warme Juniabend ist vorbei, die Kerze draußen flackert und das Wachs tropft auf den Tisch. Du liegst hinter mir und ich spüre deinen Atem in meinem Nacken. Deine Haut ist feucht und meine rau, deine Stimme fliegt in leisen Worten durch den Raum und meine Gedanken durch das Fenster nach draußen.
Es ist schon spät, sagst du und ich sage, Ich glaube, ich gehe jetzt und du stehst hinter mir auf. Ich streife den grünen Stoff über meine Arme, steige in meine Sneaker und puste die Kerze auf dem Balkon aus. Du bleibst drinnen stehen, kannst du die Gläser mitbringen, fragst du. Die Musik ist ausgegangen, ohne dass ich es bemerkt habe, der Akku der Box blinkt rot und mein Herz schlägt im gleichen Rhythmus und dann laufe ich die Treppen nach unten, alle aus dem Obergeschoss, zur Tür, zur Haustür, zu meinem Fahrrad, aber ich komme nicht außer Atem. Ich schließe das Schloss auf und fahre den Umweg zu der Apotheke, die morgens als erste öffnet.

Mit der kleinen Pille schlucke ich alles runter, die Nacht, den Juni und deinen Namen, ich wische die Wimperntusche unter meinen Augen weg, ich sehe mir meine Augenringe an und flechte meine verknoteten Haare zu einem Zopf. Ich frage mich, wann meine Freiheit zu einem Konstrukt wurde und dein Gewissen zu stummgeschaltet, wie ich. Zu Hause fragt mich meine Mutter, wo ich war, und ich zucke mit den Schultern, bei einem Freund, sage ich. Am nächsten Tag verschenke ich die grüne Bluse, die nicht mehr neu ist und
putze meine Schuhe, bis sie wieder weiß sind und meine Finger brennen.

Maja Goertz