Standardvortrag

von Emily Sara Adams

Ein Ausländer ist Flüchtling, (…) wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet (…).
– § 3 Abs.1 AsylG

Bei der Berücksichtigung der Verfolgungsgründe nach § 3 Abs.1 Nr.1 ist Folgendes zu berücksichtigen: (…) eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (…).
– § 3b Abs.1 4. AsylG

Verwaltungsgericht Schwarzbach, achter Juli 2023.

„Test, Test.“ Der Richter klopfte mit den Fingern auf sein Diktiergerät, sah auf die Wand hinter sich. „Beginn der mündlichen Verhandlung um dreizehn Uhr zehn.“ Er schnippte einen Fussel vom Ärmel seiner Robe. „Wichtigste Frage zuerst: Können Sie die Dolmetscherin verstehen?“ Tatjana sah nach links. Die Übersetzerin trug ein zu enges Kostüm und scharrte mit den Nägeln auf dem Tisch. Sie wartete nicht, bis der Richter seine Frage beendet hatte, übersetzte so schnell, dass die beiden zeitgleich zu sprechen aufhörten. Tatjana nickte. Der Richter las vom Blätterstapel vor ihm ab.

„Frau Kashibadze. Sie sind gebürtige Georgierin, kamen Ende Juli 2022 mit dem Flugzeug nach Deutschland und haben am zwölften August einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gestellt. Mit Bescheid vom dreißigsten August hat das Bundesamt Ihren Antrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt.“ Tatjana schob den Stuhl näher an das Pult, versuchte, aus dem Sprachgemisch die Dolmetscherin herauszuhören. Sie stieß mit dem Fuß gegen ihre Handtasche auf dem Boden, verpasste einen Halbsatz. „In seiner Begründung führte das Bundesamt unter anderem aus, der Wechsel der Erzählung von der politischen Verfolgung Ihres Mannes zur Ihrer eigenen Gefahrensituation sei wenig plausibel. Darüber hinaus hätten Sie Ihre Furcht vor Verfolgung durch Ihren Ehemann nicht glaubhaft deutlich gemacht. Er habe Sie nach Ihrer Trennung nicht erneut bei Ihnen zuhause aufgesucht. Außerdem gäbe es keinen Grund zur Annahme, dass Sie in Georgien keinen Schutz finden könnten, sollte Ihr Ehemann seine Drohungen durchsetzen wollen.“ Der Richter überschlug ein paar Seiten. „Sie haben zuletzt in Ku…, er blätterte zurück, … Ku…taissi gelebt, ja?“ – „Ku-tai-ssi. Es heißt Kutaissi.“ Tatjana zog die Luft ein, blickte zur Dolmetscherin, die ihre Korrektur nicht übersetzt hatte. Der Richter schien sie nicht gehört zu haben. „Das ist doch eine große Stadt in Georgien, richtig?“ – „Ja. Die drittgrößte. Glaube ich.“ Tatjana verschränkte die Hände, drückte ihre Handflächen gegeneinander. „Und da wären Sie Ihrem Ehemann schutzlos ausgeliefert gewesen? Ein Happen auf dem Silbertablett?“ – „Wie bitte? Was meinen Sie mit Happen?“ – „Eine Redewendung. Das sagt man hier so. Er hätte Sie überall finden können. Das meint der Richter. Also, er glaubt es nicht.“ Die Dolmetscherin zog die Nase hoch. Tatjana sah auf ihre Hände, auf den Handrücken perlte der Schweiß. „Ich habe mich nirgendwo sicher gefühlt. Er kannte überall Leute, auch in der Stadt. Deswegen bin ich nicht dortgeblieben.“ Der Richter nahm eine Seite, spähte darunter, als hätte er dort schon ein paar Mal nachgesehen. „Nachdem Sie also das Dorf verlassen haben, in dem Sie bis dahin gemeinsam gelebt hatten und in die Großstadt fuhren“ er formte einen großen Kreis mit den Händen – hätte Ihr Mann Sie ohne Weiteres aufspüren können? Haben Sie eine Brotkrumenspur zu Ihrer Wohnungstür gelegt?“ – „Ich musste doch den Busfahrer bezahlen, meinen Ausweis zeigen! Tatjana riss die Hände auseinander, schüttelte den Schweiß ab. „Der fährt die Strecke jede Woche, meinen Sie, er
hätte sich nicht an mich erinnert? Mein Mann hat ihm vielleicht Geld gegeben – wenn überhaupt! Dort laufen die Dinge so, du zahlst und die Leute sagen dir, was sie wissen. Wo ich wohne, hätte er einfach herausbekommen. Er hätte mich überall gefunden.“ Tatjana sank in ihren Stuhl zurück, sie war laut geworden.

„Ja…, sehen Sie“ – der Richter sah an Tatjana vorbei in den hinteren Teil des Saals – für die Praktikanten, die wir heute dahaben: Das ist jetzt hier ein Standardvortrag.“ Der Richter hob den Papierstapel vor sich an einer Ecke hoch, schüttelte ihn leicht. „Verfolgung durch den Ehemann und so weiter, ja…“ Tatjana drehte den Kopf. An der Rückwand des Raumes stand eine Reihe Kunststoffstühle, einige Jugendliche rutschen auf den Sitzen herum, kratzten sich im Gesicht oder schoben die Hände in die Taschen. „Fangen wir noch einmal von vorne an. Also, wie ich bereits sagte, Sie können sich das Ganze so vorstellen: Die Familie – Mutter, Vater und Ehemann, zwei bis fünf Kinder – kommt nach Deutschland und stellt einen Asylantrag, weil der Vater um sein Leben fürchten muss, denn ihm droht unter allen Umständen Verfolgung wegen seiner politischen Tätigkeit, Opposition. Gerade sei er noch untergetaucht und käme so schnell wie möglich nach Deutschland nach. So.“ Er holte Luft. „Dann, nämlich wenn der Antrag abgelehnt wird, wechselt auf einmal die Erzählung. Aha!“ Der Richter schwenkte das Diktiergerät vor seinem Gesicht. Die Praktikanten sahen zur Uhr, zur Tür. „Jetzt stellt sich heraus, dass die Frau und die Kinder eigentlich vom Ehemann verfolgt werden und deshalb in Deutschland Schutz suchen wollen. Das wird dann eingeklagt, wie Sie heute hören.“

– „Er hat uns geschlagen! Zuerst bloß mich, aber dann auch die Kinder, wenn ich nicht zuhause war, hat er die Kinder geschlagen.“ Die Dolmetscherin lehnte sich nach vorne, ein Knopf an Ihrer Bluse rutsche aus dem Loch. „Frau Kashibadze, bitte sprechen Sie nur, wenn Sie dazu aufgefordert werden.“ Der Richter winkte ab. „Wieso sind Sie nicht zur Polizei gegangen? Die Polizei muss auch in Georgien Straftäter verfolgen.“ – „Ich hatte Angst. Mein Ma…“ – sie sah im Raum herum – er hatte alles, also ich meine… das Haus war seins, ich hatte keine Kreditkarte, die Autoschlüssel… Wenn er gewusst hätte, dass ich ihn angezeigt habe – “ Tatjana unterbrach sich, sah zur Dolmetscherin, die blinzelte, das nächste Wort erwartend wie ein blinkender Cursor in einer leeren Datei. „Warum sind Sie nicht bei Verwandten untergekommen?“ – „Mit meinen Eltern habe ich seit Jahren nicht gesprochen, sie kamen nicht zur Hochzeit. Die Verwandtschaft meines M…, seine Verwandtschaft, hat sich nicht für mich interessiert. Niemand hätte mir geholfen.“ Der Richter machte sich eine Notiz. Hinten im Raum piepste ein Handy. „Auch für Sie nochmal von vorne, Frau Kashibadze. Wieso haben Sie in Ihrer Anhörung beim Bundesamt die Geschichte über die politische Verfolgung Ihres Ehemannes erfunden? Wenn Sie doch eigentlich vor seinen – er kreiste mit dem Zeigefinger – Gewalthandlungen geflohen sind?“ Tatjana folgte dem Finger mit den Augen. „Ich…, wir – die Kinder. Ich hatte Angst um meine Kinder. Dass mir niemand glaubt. Auf der Polizeiwache haben sie meiner Nachbarin gesagt, sie soll Gebäck vorbereiten und Tee, wenn ihr Mann von der Arbeit kommt, soll sie sich zu ihm aufs Sofa setzen. Dann würde er aufhören. Hat er aber nicht, meiner auch nicht. In Kutaissi hätte mir keiner geglaubt. In den Nachrichten sagen sie, dass politisch Verfolgte Asyl in der EU bekommen. Ich wusste nicht… ich wusste nicht, dass ich und die Kinder einen eigenen Schutzstatus haben. Haben könnten.“

Der Richter lehnte sich über sein Pult nach vorne. „Ja, … die Kinder. Hier haben wir ein Problem, Frau Kashibadze. Wenn doch die Situation mit Ihrem Mann so schlimm war, wieso haben Sie dann drei gemeinsame Kinder mit ihm?“ – „Können Sie sich das nicht denken?“ Tatjana schaute dem Richter ins Gesicht, in beide Augen. Er lächelte, legte die Hände übereinander. „Die Situation erschließt sich mir nicht. Bitte schildern Sie das etwas genauer.“ Tatjana langte nach ihrer Handtasche, griff ins Leere. „Bitte erklären Sie uns, wie es denn sein kann, dass Sie und Ihr Mann drei Kinder haben, wenn das Zusammenleben für Sie auch davor schon unerträglich war.“ Tatjana zog die Tasche an die Brust. „Das kann ich nicht erzählen. Nicht hier – “ „Natürlich…“ der Richter senkte den Blick, drehte an seinem Ehering, zog die Worte in die Länge. „Natürlich könnten wir die anwesenden Besucher bitten, den Raum zu verlassen. Wenn Sie das möchten.“ Die Praktikanten waren bereits halb
aufgestanden, als sie das „Nein“ hörten. Tatjana begann zu weinen. Sie setzten sich wieder, die Jacken halb angezogen, die Rucksackgurte auf den Schultern. „Gut.“ Der Richter machte sich eine weitere Notiz. „Natürlich kann ich nur das ins Protokoll aufnehmen, was Sie gesagt haben, Frau Kashibadze.“ Ein Blick zur Dolmetscherin. „Auf die Frage, warum die Klägerin drei gemeinsame Kinder mit ihrem Ehemann habe, wenn sie das Zusammenleben als untragbar empfunden habe, gibt die Klägerin keine Auskunft.“ Er sah zurück zu Tatjana. „Auch auf Nachfrage lehnt die Klägerin es ab, dem Gericht die Situation genauer zu erläutern.“ Er legte das Diktiergerät zur Seite. „Das war so weit alles, was ich wissen wollte. Haben Sie sonst noch Fragen? Soll Frau Tsulaia Ihnen das Protokoll noch einmal übersetzen?“ Tatjana machte ein nasses Geräusch. Die Dolmetscherin wiederholte die Frage. Tatjana hob die Schultern. „Die Antragstellerin verzichtet auf eine Rückübersetzung des Protokolls.“ Der Richter lockerte den Kragen seiner Robe. „Ende der mündlichen Verhandlung um dreizehn Uhr fünfundfünfzig.“ Binnen einer Minute hatten die Praktikanten den Gerichtssaal verlassen. Tatjana blieb sitzen, nahm ein Taschentuch, dass ihr die Dolmetscherin hinhielt. Der Richter belud einen Aktenwagen und schob ihn zum Ausgang. „Das Urteil wird Ihnen in etwa zwei Wochen zugestellt werden. Es gibt heute keine weiteren Verhandlungen, der Raum wird in einer halben Stunde geschlossen.“


„He, Sie, kommen Sie einmal her. Gucken Sie, die Blätter ganz oben – nein, anderer Stapel – das ist das Urteil aus der Kashibadze-Sache. Da müssten Sie doch in der mündlichen Verhandlung dabei gewesen sein.“ Der Praktikant nahm die drei mit einer Büroklammer zusammengehefteten Seiten vom Schreibtisch. Die letzte war nur im oberen Drittel beschrieben, darunter hatte der Richter seine Unterschrift gesetzt. „Also, der Form halber sollte ich sagen, das vorläufige Urteil. Da gibt es Textbausteine, je nach Fall natürlich andere – jedenfalls wird sich eigentlich nichts mehr ändern.“ Der Praktikant hielt die Papiere ein Stück von sich weg. „Natürlich müssen Sie mit dem Datum kulant sein. Sie können schlecht noch am Tag der Verhandlung entscheiden, wie sähe das denn aus?“ Der Richter schmunzelte. „Ich lasse normalerweise mindestens eine Woche vergehen. In Anführungszeichen.“ Er lachte. „Sie können gehen, machen Sie den Nachmittag frei. Und schauen Sie dann mal morgen auf der Website vom Gericht, so bis um elf sollte das Urteil dann auch digital verfügbar sein. Falls Sie noch ein bisschen schmökern wollen.“


Tatjana sah den Umschlag in dem Moment, als sie aus der Haustür trat. Er ragte aus dem Briefkastenschlitz, gelb wie ein Warnschild. „Warten Sie mit dem Öffnen bitte, bis ich da bin, sonst machen Sie sich nur unnötig verrückt. Behördendeutsch. Ich komme mittags und dann besprechen wir gemeinsam, wie es weiter geht.“ Tatjana konnte sich nicht an den Namen der Sozialarbeiterin erinnern. Auf Ihrem Schreibtisch hatte ein Foto gestanden, eine Familie in Angelausrüstung. Noch im Treppenhaus riss sie den Umschlag auf.

Der Antrag wird abgelehnt. (…) Gewalt gegen Frauen ist in Georgien nach wie vor ein Problem. Fälle häuslicher Gewalt werden gesellschaftlich und behördlich meist als interne Familienangelegenheit betrachtet. Allerdings gibt es mittlerweile Möglichkeiten, Schutz vor Gewalt durch Familienangehörige zu finden. Insbesondere in Großstädten existieren zahlreiche Anlaufstellen für Frauen, Kinder und andere Betroffene. Der georgische Staat ist demnach willens und in der Lage, der Klägerin ausreichenden Schutz im Sinne des § 3d AsylG zu gewähren.
Gezeichnet, Richter J.
– VG Schwarzbach, Beschluss vom 11.08.2023


Schwarzbach. Am Dienstag, den 14. November ist das Disziplinarverfahren gegen den am Verwaltungsgericht Schwarzbach tätigen Richter J. eingestellt worden. Dies gab das Gericht in einer Pressemeldung bekannt. Zuvor hatte sich der Richter schweren Vorwürfen
ausgesetzt gesehen, welche namentlich durch einen Praktikanten erhoben worden waren. Der siebzehnjährige Abiturient F., der im Rahmen seines Berufspraktikums die mündlichen Verhandlungen am Amtsgericht besuchte, hatte J. beschuldigt, sich gegenüber einer Klägerin respektlos und diskriminierend verhalten zu haben. F. sei sich sicher, dass die Klägerin, eine georgische Staatsbürgerin, die gegen einen abgelehnten Asylantrag für sich und ihre Kinder vorgegangen war, in ihren subjektiven Rechten verletzt wurde. Außerdem habe der Richter J. ihm in seinem Büro anvertraut, dass er sich mit dem Fall der Klägerin nicht näher beschäftigen, sondern lediglich ein vorgefasstes Urteil verkünden würde. Besonders habe F. schockiert, dass J. in Gegenwart der Klägerin von einem „Standardvortrag“ gesprochen habe, bei dem aufgrund der häufig vorkommenden Fallkonstellation kein besonders sorgfältiges Vorgehen notwendig sei. F. machte seine Kritik auf den sozialen Medien publik und startete die online-Petition „rechte Richter raus“, die bis zur Bekanntgabe der Gerichtsentscheidung am vergangenen Dienstag von 2500 Menschen unterzeichnet wurde. Auf Nachfrage der Redaktion zeigt F. Bedauern über den Ausgang des Verfahrens. Er selbst wolle nach dem Abitur Jura studieren und Anwalt werden. „Für mich war das ganz klar eine Gewissensentscheidung“, so F. „Ich werde nicht wegschauen, wenn ein Richter offensichtlich anhand seiner politischen Überzeugung entscheidet, anstatt sich auf Fakten zu stützen. Wenn er sich dabei auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen will – auf das er übrigens einen Eid geleistet hat – dann sollte er sich innerlich verpflichtet fühlen, nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden.“ Richter J. äußerte sich zu den Vorwürfen nicht. Die Klägerin und ihre zwei Kinder erwarten derweil ihre baldige Abschiebung nach Georgien.
– Schwarzbacher Tageszeitung, Lokalteil.