Auf der Mauer, auf der Lauer

Ansichten eines Stabsgefreiten

von Bernd Großmann

Auf der Mauer, auf der Lauer, sitzt er hier in Wandlitz,
auf der Mauer, auf der Lauer, sitzt er hier in Wandlitz,
schaut euch mal den Atze an,
wie der Atze schießen kann,
auf der Mauer, auf der Lauer, sitzt der hier als Wache.

summte Andreas, seines Zeichens Stabsgefreiter der NVA, leise vor sich hin. Im Nieselregen, auf einem fünf Meter hohen Wachturm hockend, starrte er stumpfsinnig auf die von Regen-schwaden grau getönte Grünfront der Waldfläche, die sich wie eine undurchdringliche Mauer vor ihm auftat. So hatte er in dieser Einöde schon Stunde um Stunde, Tage um Tage, ja, Woche um Woche auf den anderthalb Quadratmetern verbracht, unweit des Forsthauses am Liebnitzsee und des schweren Eisentores, der Einfahrt aufs Gelände der Waldsiedlung Wandlitz. Vereinzelt hörte er, gedämpft durch den dichten Nadelwald, einen knatternden Trabi auf der Oranienburger Chaussee vorbeiröhren, aber ansonsten drangen in dieser märkischen Abgeschiedenheit kaum irgendwelche Geräusche an sein Ohr. Wachposten in Bonzenhausen, dem bestgesichterten Dorf der DDR. Was für eine dröge, Geist und Seele tötende Tätigkeit, besonders für einen Freigeist wie ihn, den Atze, der schon in der Schule unter Klassenkameraden dafür bekannt war, sich in kurzen Versen über die Lehrer lustig zu machen oder bei den FDJ-Freizeiten auf der Gitarre Lieder am Lagerfeuer anzustimmen. Natürlich musste er schon damals aufpassen, keine „rote Linien“ zu überschreiten, natürlich wusste er, dass er Staat und Staatsgewalt nicht allzu arg verhohnepiepeln durfte, natürlich war ihm klar, dass er nach jedem frechen westlichen Schlager seiner Gitarre ein linientreues „Auf, ihr Kameraden“-Lied entlocken musste. Aber er konnte sich einiges erlauben, war doch sein Vater gelernter Werkzeugmacher und hoch dekorierter, parteiergebener SED-Sekretär und seine Familie in Sachen Staatsräson stets über alle Zweifel erhaben. Daher saß er, wie man ihm zugeflüstert hatte, vor seinem Maschinenbaustudium auch hier und heute im priviligierten Wachbataillon der grenzsichernden Truppen. Als Stubenhocker vertrieb er sich die sich endlos dahinziehenden Stunden und Tage damit, Lieder umzuschreiben oder Songs selbst zu dichten, auch wenn er sie nie mit seiner Gitarre zu Gehör bringen konnte.

Meine Lieder, die sind frei,
im Kopfe geboren.
Sie fliegen vorbei
an tauben Stasi Ohren.

Kein IM wird’s wissen,
kein VoPo sie schießen.
Und so bleibt es dabei:
Damit fühl ich mich frei.

1958 hatte man begonnen, das Projekt „Waldsiedlung Wandlitz“ unter strenger Geheimhaltung auf 160 Hektar der Hinteren Heide zu erbauen. Zunächst wurden Wände, Zäune und Mauern, insgesamt acht Kilometer lang, errichtet, um den Blick aufs eh etwas abgelegene Areal vollends zu versperren. Diese Umgrenzung wurde grün gestrichen, damit die Siedlung noch mehr im Schutze des Waldes versank. Selbst Hänsel und Gretel, in der Hinterheide verlaufen, hätten sie nie gefunden, feixte Atze oft für sich, wenn er mutterseelenallein den Wald um sich herum betrachtete. Wenn’s Wetter gut war, erfreute er sich an der herrlich würzigen Waldluft und kam sich wie in der Sommerfrische vor. Wenn’s aber nass und kalt wurde, war’s arg zugig auf seinem Posten. Dann sah er diesen Dienst am Vaterland nicht als Privileg an. Und doch. Er wollte und konnte sich nicht beklagen, denn seit dem 13. August 61 stand der antifaschistische Schutzwall in Berlin. Und er kannte eine Reihe von Mitschülern, die, kurz nach dem Abitur, dort an der Mauer ihren Dienst antreten mussten. Von einigen wusste er jedoch, dass sie eher „durften“ statt „mussten“ sagen würden. Der Dienst an der Waffe und die Verteidigung des Staatsgebietes der DDR gegenüber den Übergriffen der imperialistischen Westmächte war ihnen so etwas wie eine heilige Pflicht. So gesehen war er froh, dass er, der kleine Atze, hier im Herbst 63 eine ruhige Kugel hinter der Wand der Wandlitzer Waldsiedlung schieben konnte. „Ditt ham wa wieda janz jut hinjekriecht, wa?“ konnt’ sich Andreas schmunzelnd selbst auf die Schulter klopfen.

Dennoch, öd’ war’s auf die Dauer schon, auch wenn die 200 Offiziere und Soldaten des Wachbataillons Zugang zum ‘Ladenkombinat Sonderversorgung’ hatten. Da sah man Sachen in den Regalen, die man für gewöhnlich nur aus dem Westfernsehen kannte. Lecker saftige Südfrüchte wie Ananas, goldgelbe Bananen, dass einem schon beim bloßen Anblick das Wasser im Munde zusammenlief. Sogar Persil, Jeans und andere Westklamotten waren da zu erwerben, wenn man das nötige Kleingeld in der richtigen Währung hatte. Nun gut, fürs Obst und eine Schweizer Toblerone reichte es gerade, aber ihnen wurde auferlegt, diese Sonderversorgung quasi als „Staatsgeheimnis“ zu betrachten. Die Arbeiter und Bauern jenseits der Wand könnten ja auf dumme Gedanken kommen und glauben, dass die 23 SED-Mitglieder des Politbüros mit ihren Familien wie in der „Farm der Tiere“ womöglich privilegiert wären und solch abstruse Hirngespinste wollte man unbedingt vermeiden. Doch auch in den stillen Stunden hoch über der „Farm“ fielen Andreas dazu stets ein paar gereimte Zeilen ein, die er, wie heute, schnell in sein kleines Poesiealbum schrieb.

Um Wandlitz sind die Mauern hoch,
Dahinter steht der Futtertrog.
Im Arbeiter- und Bauernstaat
gibt’s Grapefruit nur in Volvograd.

Andreas rieb sich vergnügt die Hände auf den Schenkeln. Auch wenn der Reim noch etwas holprig daherkam, passte er doch gut auf die Melodie der langen Hamburger Nächte, die ihm als Zehnjährigen irgendwie ins Ohr gesetzt worden war. Seine Mutter, eine gebürtige Hamburgerin, hatte das Lied oft ein wenig wehmütig gesummt oder gar gesungen. Jetzt hätte er allzu gern zur Gitarre gegriffen und den Saiten einige Akkorde entlockt. Aber in Ermangelung seines Zupfinstruments – das Einzige, was ihm zur Verfügung stand, war seine ungeliebte „Braut“, sein Gewehr – spitzte er die Lippen und pfiff das Lied so vor sich hin, wobei er gleich wieder über sich schmunzeln musste, klang’s doch wie’s Pfeifen im Walde. Er hatte aber Lust und Mut bekommen, sich mit weiteren poetischen Versuchen von seiner langweiligen und eh unsinnigen Wachtätigkeit ablenken zu lassen. Er wollte noch frecher werden, zumal er wusste, dass während der NS-Zeit der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels seinen Wohnsitz in unmittelbarer Nachbarschaft hatte und seine Kinder in Wandlitz zur Schule gegan-gen waren. Hatten sich etwa alle Führungskader hierhin zurückgezogen und hinter Mauern und Zäunen verbarrikadiert, nur dass grad mal zwanzig Jahre dazwischen lagen?

In Wandlitz gibt’s ein Altersheim
umgeben von ‘nem Zaun.
Von draußen kommt man da nicht rein
und drinnen will kein Mensch abhau’n.
Im SEnilen Dorf lebt’s sich halt froh –
Ein Hoch aufs ‘SED-Ghetto’.

Wenn Andreas sich die Schutzanlagen aus der Eichhornperspektive seines Postens ansah, kam unweigerlich das Gefühl auf, er würde Lagerinsassen bewachen. Die Anlage glich einem Ghetto, auch wenn dort drinnen viel fürs angenehme Leben getan wurde. Ein großer Park, eine Schwimmhalle, ein Kino waren die sichtbaren Vorzüge. Die, wie man munkelte, westlichen Wasserhähne und Badeinrichtungen bis zur Kloschüssel waren die unsichtbaren. Das Gewusel von 650 Bediensteten, vom Koch über’n Chauffeur zur Putzfrau, die meisten täglich aus dem zehn Kilometer entfernten Bernau mit dem Bus rangeschafft, waren auch Ausdruck für den nicht zu übersehenden Luxus der Bewohner, der Führer im Arbeiter- und Bauernstaat. Mit an der Spitze der Führungsriege stand Erich Honeker. Dieser bieder wirkende Mann war als Sekre-tär des Nationalen Verteidigungsrates für Sicherheitsfragen zuständig. Und für die ZKler diente der antifaschistische Schutzwall der Sicherheit. Bezeichnenderweise wohnte der Architekt der Mauer im Habichtweg und hatte auch den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze zu ver-treten. Beim makaberen Gedanken an „Wer schießt? Er, ich?“ griff Andreas zum Bleistift und brachte ein paar Zeilen zu Papier. Er nahm sich die Freiheit, seine Meinung lyrisch zu ver-klausulieren.

Bonzen reisten jüngst zu Pfingsten
nach Wandlitz war ihr Ziel.
Ja, die Herrn war’n nicht die Jüngsten,
Ü-80 vom Gefühl.
Ein Boss, der trug als Krone
‘nen Strohhut auf der Birn’.
Doch der Rest war oben ohne,
ihr Stroh war unten drin.
Doch der Rest war oben ohne
das Stroh war in der Birn’.

Zufrieden blickte Andreas auf den schnell heruntergeschriebenen Vers. Er trug so viel Wahres in sich und zugleich schwang ein wenig Heimatgefühl mit. Denn der Berliner Bolle wollte in diesem Gassenhauer ja nach Pankow und im Ortsteil Niederschönhausen war er, der Atze, zu Hause. Dort hatte er seine Wurzeln. Und allein schon beim Gedanken an Pankow fing er an, das Lied zu pfeifen und seinen Bolle, der sich trotz aller Widrigkeiten immer köstlich amüsiert hat, summend hochleben zu lassen. ‚Kopf hoch, lass’ dich nicht unterkriegen, behalte immer den Humor‘, das war Bolles wahrhaft nachahmenswerte Lebenseinstellung. Natürlich kannte Andreas alle sieben Strophen auswendig und freute sich beim Singen und Pfeifen über die Keilerei, in die Bolle verwickelt war, über das zerknickte Nasenbein und die Dresche, die er, schließlich nach Hause gekommen, auch noch von seiner Ollen bezog. Köstlich.

Plötzlich wurde hinter ihm die Tür des Wachraumes aufgerissen. Der scharfe Klang eines heftig aufgesetzten Stiefelabsatzes ließ ihn erschreckt herumfahren und er blickte in die strenge Miene des Vorgesetzten seines Wachkommandos, Leutnant Macke. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern sprang Andreas auf, schlug die Hacken zusammen, nahm Haltung an und brachte die rechte Hand zum Gruß an den Kopf. „Hiermit melde ich, Stabsgefreiter Kranz auf Wachposten 3, keine besonderen Vorkommnisse.“ „Rühren, Stabsgefreiter. Ich hab’ Sie von unten am offenen Fenster singen und pfeifen gehört. Da wollte ich mal nachschauen, was es hier im Wachturm so Lustiges gibt.“ „Nichts, Herr Leutnant, absolut nichts,“ antwortete Andreas beim Versuch, sich vor sein offenes Poesiealbum zu schieben. „Ich habe mir nur erlaubt, meine Gedanken etwas schweifen zu lassen.“ „So, ‘Gedanken schweifen lassen’, nennen Sie Ihr’n Singsang also. Sie werden, das ist Ihnen hoffentlich klar, nicht umsonst wöchentlich unter-wiesen, die vollste Konzentration auf den Wachdienst zu lenken. Der Feind lauert überall. Daher hat unser Arbeiter- und Bauernstaat diese Schutzwälle. Staatszersetzende Kräfte müssen unbedingt daran gehindert werden, unser Territorium zu betreten, und das gilt insbesondere für den sensiblen Bereich der Wohnsiedlung hochrangiger Politfunktionäre. Ist das klar, Stabs-gefreiter Kranz?“ „Jawoll, Herr Leutnant, sehr klar!“ „Kranz, aber was verstecken Sie da eigent-lich hinter Ihrem Rücken. Das ist doch sicher nicht die Dienstvorschriften, was? Zeigen Sie mal her.“ „Herr Leutnant, nichts Besonderes. Nur ‘n paar Gedichte.“ Verstohlen schlug Andreas das Album zu und wollte es in der Schreibtischschublade verschwinden lassen. Doch der Leutnant hatte schon eine Hand ausgestreckt, ergriff es und öffnete es an der eben noch offenen Seite. Er überflog die Zeilen, klappte das Büchlein zu und blickte Andreas mit steinerner Miene an. „Dieser schäbige Gedichtband, wie Sie’s nennen, ist hiermit als Beweismittel konfisziert. Sie meinen also, dass unsere verdiente Staatsführung aus lauter alternden Strohköppen besteht, die ‘s wohl nicht wert wären, bewacht zu werden, was? Mein lieber Kranz, da ham Sie sich ja in was reingeritten. Sie, und nur Sie, sind der Strohkopp! So einen wie Sie können wir hier ganz und gar nicht gebrauchen. Der Staatsapparat wird Ihnen schon zeigen, was eine Harke ist. Studieren wollense? Dass ich nicht lache. Ich nehme Sie wegen staatsgefährdender Schriften und subversiver Haltung im Dienst vorläufig fest.“

Doch Atze fand den Mut, sich aufzurichten, nochmals die Hacken zusammenzuschlagen und seinem Vorgesetzten zu widersprechen. „Aber Herr Leutnant, darf ich Sie untertänigst darauf aufmerksam machen, dass die Verfassung der DDR jedem, auch mir, Meinungsfreiheit gewährt. Nach Artikel 27 wird jedem Bürger der Deutschen Demokratischen Republik das Recht zuge-standen, seine Meinung frei und öffentlich zu äußern. Und demzufolge darf niemand benach-teiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht. Das gilt auch für Kunstschaffende.“ „Mannomannomann, Kranz, das tritt ja dem Fass endgültig den Boden aus. Sie wollen sich mit Ihren Schmierereien auch noch auf die Kunstfreiheit berufen, was? Sie tragen das Ehrenkleid der NVA und dienen Ihrem Arbeiter-und-Bauern Staat als Soldat und nicht als Schmierfink! Haben Sie das schon vergessen, Stabsgefreiter Kranz? Sie haben sich grad als Teil der sozialistischen Gesellschaft deklassiert. Selbst abgeschossen, sozusagen. Dieser Blattschuss war ein absoluter Querschläger, Kranz! Aber da gibt’s glücklicherweise genug Mittel und Wege, Typen wie Ihnen die bourgeoise Meinung auszutreiben. Das kann ich Ihnen versichern. Warten Sie mal ab: Wir nehmen uns die Freiheit, Ihnen Ihre Gedichte den Arsch hochzuschieben! Aber bis zum Anschlag! Meinungsfreiheit – meine Fresse! Wo kommen wir denn da hin? Und jetzt Abmarsch!“

Das Disziplinarverfahren unter Leitung des Bataillonskommandeurs Oberst Ramke führte – und auch nur, weil Atzes Vater noch Einfluss nehmen und einige mildernde Gründe anführen konnte – zur sofortigen Versetzung zum Grenzsicherungs-Wachbataillon nach Boizenburg/ Elbe. Andreas Kranz’ Fehlverhalten wurde mit einem strengen schriftlichen Tadel gerügt und fand Eingang in die Personalakte. Zudem wurde ihm der Dienstrang des Stabsgefreiten aberkannt und er wurde zum Gefreiten degradiert. Es wurde deutlich gemacht, dass man sehr milde mit ihm verfahren wäre, der nächste Fehltritt ihn aber das Maschinenbaustudium kosten würde. Er könne sich aber im Kreise der Kameraden an der Waffe bewähren. Eine sozialistische Gesinnung zeigen. Und abtreten. Der nächste bitte.

Wenn Andreas, den seine Freunde nur Atze nannten, im September 63 nicht sorglos gepfiffen hätte… Ja, wenn, wenn, wenn… ja, hätte, hätte, Fahrradkette. Dann würde Oliver P., der nur den Zaun zur Freiheit überwinden wollte, heute wohl noch leben. Oliver, den seine Freunde nur Olli nannten, war gerade 20 Jahre alt geworden. Aber Andreas K. hatte Streifendienst. Und er war da. Zum falschen Zeitpunkt. Auf dem Posten, auf der Lauer. Und konnte sich kein weiteres Versagen mehr leisten. Er hatte nicht die Freiheit, sich zu entscheiden. Sein Leben stand auf dem Spiel. Er wollte doch Ingenieur werden. So musste der Atze, verdammt noch mal, schießen.